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Die WahrheitGesenkten Hauptes die Welt entdecken

Alle Welt meint ja, scheinbar niedergedrückte Menschen mit der Parole "Kopf hoch!" ermuntern zu müssen. ...

... Dabei lässt sich beim Spazierengehen viel mehr entdecken, wenn man eben nicht in die Waagerechte äugt, sondern die Blicke den Wegesrand ausleuchten lässt. Das verbessert die Laune verlässlich.

So fiel mir neulich am Tage nach dem Ende der hiesigen Händel-Festspiele ein dickes weißes Papier unter einem Heckenrand ins Auge, das sich als wahrer Schatz erwies. Der Brief enthielt gleich mehrere Eintrittskarten zu allen Gastauftritten in der Berliner Philharmonie für die kommende Saison: mal mit Kurt Masur, mal mit Valery Gergiev oder Lorin Maazel. Kein Name fehlte aus der Champions League der Stöckchenschwinger. Verloren hatte den dicken Notenbrummer der langjährige Leiter der erwähnten Händel-Festspiele, dem wohl die Feuerwerksmusik die ganze Haptik zugedröhnt hatte. So sitze ich nun wohl nun in den kommenden Monaten alle Woche an seiner statt in der Philharmonie herum, um mal etwas ganz anderes zu machen.

Was ganz anderes widerfuhr mir dann auch ein paar Tage später. An einem der schwüleren Tage hatten die Ameisen zu schwärmen begonnen und besiedelten die Luft. Für lange Flüge fehlte vielen schon die Kraft, sodass die meisten es allmählich vorzogen, zu Fuß durch die Welt zu tapern. So auch ein Exemplar, das ich eben noch aus einem Spinnennetz befreit hatte. Es landete, der gerade erst erfolgten Rettung vielleicht noch eingedenk, vor mir auf dem Pflaster und schritt munter geradeaus. Dabei verlor das Tierchen mitten beim Flanieren seinen linken Flügel. Aber ließ es sich dadurch beirren? Keineswegs. Es lief einfach weiter, nur bei seinem Versuch, sich wieder in die Lüfte zu erheben, bekam es Schwierigkeiten. Es vollführte kreisende Bewegungen, die schließlich dazu führten, dass ihm auch noch der rechte Flügel abfiel. Danach stellte es die Flugversuche ein und setzte seine Wanderung wieder fort …

Wundersame Welt der Ameisenmännchen! Da war kein Aufbegehren, kein Notalarm. In zwei Zentimeter Körperlänge zeigte sich die perfekte Umsetzung stoischer Gelassenheit - nicht unähnlich dem schwarzen Ritter aus dem Monty-Python-Film "Die Ritter der Kokosnuss", der sich ja auch durch zwei abgehauene Arme nicht aus der Ruhe bringen lässt. "Nur eine kleine Fleischwunde!", mag sich die Ameise gedacht haben oder: "Flügel? Wozu braucht man die überhaupt. Die meisten anderen haben ja auch keine …"

Ins Menschliche übersetzt würde es sicher nicht so unaufgeregt zugehen. Wenn den hominiden Burschen auch so mir nichts, dir nichts in der Fußgängerzone beim Abhängen einfach so auf einen Schlag ihre beiden Arme abfallen würden, dann wäre das Geschrei bestimmt sehr groß. Wie sie jammern und zetern würden! Wie die Rettungskräfte über die herumliegenden Arme stolpern würden, vielleicht selbst schon armlos umherliefen! Da kann man von Ameisen doch noch so manches lernen. Allerdings gilt es den Blick zu senken …

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