Die Wahrheit: Zucken unterm Tisch
Sie heißen Kniewipper, sie sind überall und sie werden immer mehr. Bericht über ein Phänomen in nervösen Zeiten.
Wer kennt sie nicht, die jungen Männer, die in der U-Bahn, im Kino, in der Kneipe, kurz: überall, wo sie sitzen, mit dem Knie wippen. Zwar macht jeder Mann in seiner Jugend eine Kniewipp-Phase durch, aber nur jeder dritte bleibt dabei. Von denen wippen 64 Prozent mit dem rechten und 36 Prozent mit dem linken Knie.
Bei diesen Männern mit chronisch gewordenem Kniewippen kommt ein großer Teil aus der Unterschicht beziehungsweise ist sozial abgestiegen oder hat sich dem Bodybuilding verschrieben. Wenigstens ist Kniewippen aber heilbar - und als solches eine "Krankheit", die natürlich ein riesiger Markt für die Pharmaindustrie ist.
Deswegen gibt es in den USA gleich drei Konzerne, die in den letzten Jahren Mittel gegen das Kniewippen entwickelt haben. Deren Marktdurchdringung wird nicht zuletzt über eine wachsende Zahl von Selbsthilfegruppen forciert.
2010 gründeten diese "knee nodder", wie sie sich nennen, sogar einen nationalen Verband: Es geht darum, das Kniewippen offiziell als Leiden anerkannt zu bekommen. Rückendeckung liefert dem Verband dabei die Pharmaindustrie. Aber auch mehr und mehr Ärzte behandeln das früher von ihnen als "entwicklungsbedingte Macke" abgetane "knee nodding" inzwischen mit mehr Respekt.
So kam es kürzlich auf einem Ärztekongress in Florida bereits zu einem ernsthaften wissenschaftlichen Disput über die tieferen Ursachen des Kniewippens: Während die einen psychologisch argumentierten - und von einem nervösen Zucken aufgrund sich stauender Sexualhormone sprachen, gingen andere von einem Gendefekt und wieder andere von einem Epigeneffekt aus.
Von den letzteren waren mehrere zuvor an der Herstellung eines Anti-Kniewipp-Medikaments namens "Kneeease" beteiligt. Einig waren sich die Kontrahenten darin, dass dieses vermehrte "Fear of Falling"-Leiden, wie die US-Soziologin Barbara Ehrenreich es nennt, dank der aufklärerischen Tätigkeit der Selfhelp-Groups kein "tic" mehr ist, den man schamhaft unter dem Tisch versteckt oder schmerzhaft unterdrückt.
Auf Youtube gibt es einen 45-minütigen Film - unter dem Stammtisch einer zehnköpfigen Männerrunde aufgenommen -, der zeigt, dass und wie alle Anwesenden ununterbrochen mit den Knien wippen. Er heißt "the suburb knee nodder" - die Kniewipper aus der Vorstadt.
Hierzulande gründete sich die erste Selbsthilfegruppe im Ruhrgebiet. In dieser von schweren sozialen Umbrüchen gekennzeichneten Region gibt es die meisten Kniewipper. Einige der alteingesessenen Ärzte dort behaupten, dass dies eine Spätfolge der sogenannten "Staublunge" im Kohlenpott sei.
Während lokale Sozialkulturforscher - unabhängig von dieser möglichen Ursache - davon ausgehen, dass das Kniewippen schon sehr lange im Ruhrgebiet verbreitet ist, nur sei es bis zum Niedergang der Montanindustrie niemandem aufgefallen, weil die jungen Männer ihr Bier meist im Stehen - an den "Trinkhallen" - zu sich nahmen.
Seitdem es diese Kioske, die oft vor den Fabrik- und Zechentoren standen, nicht mehr gibt, müssen sie in regulären Kneipen sitzen, wo das Kniewippen selbstverständlich auffällt.
Eine anderer deutscher Kniewippschwerpunkt ist Bremerhaven. Dort löste sich die Selbsthilfsgruppe jedoch gerade wieder auf. Ihr ehemaliger Leiter, Hans Schmollnick, führt das auf die "Unverträglichkeit der Charaktere" zurück, die dort allwöchentlich in der Kneipe "Blauer Peter" zusammenkamen: "Kniewippen allein genügt nicht!" So sein Fazit. Obgleich er zugibt, dass ein fähiger "Therapeut" vielleicht einiges hätte retten können.
In Deutschland fehlt es zurzeit noch daran. Etwas schneller waren da die Sozialarbeiter, die sich schon vor zwei Jahren dafür einsetzten, dass man die Kniewipper nicht einfach ihrem Schicksal überlässt, sondern ihnen eine "qualifizierte Betreuung" angedeihen lässt.
Der Berliner Freie Träger "Pegasus" hat dazu im Frühjahr 2011 bereits ein "Pilotprojekt" gestartet. Der Geschäftsführer der Spandauer Einrichtung, Martin Rausche, sieht das Problem der Kniewipper, von denen seine Sozialarbeiter inzwischen 21 Fälle betreuen ("Nur die Spitze des Eisbergs"), quasi existentialistisch:
"Es geht dabei ums Weggehenwollen, während man irgendwo sitzt. Es ist eine simulierte Flucht, ein bedingter Abhau-Reflex, der in dem Moment chronisch wird, da das nicht gelingt - und man festsitzt. Seit der Globalisierung schafft so etwas ein ,unglückliches Bewusstsein' - das allerdings nicht länger therapieresistent ist, also der Bearbeitung zugänglich."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld