Die Wahrheit: Die Macht des Krachts
Noch vor Sonnenaufgang hat sich ein älterer Herr so demonstrativ vor der Buchhandlung Hilwek & Schide postiert, dass aufmerksame Nachbarn die Polizei alarmieren...
... Auf die Frage der Beamten, was er im Schilde führe, antwortet er, er führe keinen Schild, es sei ihm lediglich um die Freiheit des Wortes zu tun. Ratlos zieht sich die Staatsgewalt zurück.
Als die Buchhändlerin den Laden aufsperrt, stürmt der Herr hinein, postiert sich vor einem Bestsellerstapel und verkündet, er werde die Unterdrückung dieser Schrift mit Mann und Maus verhindern, um dem Kulturbolschewismus Einhalt zu gebieten. Einen jungen Mann mit entgrenzter Frisur, der sich dem Stapel nähert, scheucht er mit grimmigen Gesten zurück. Er wolle das Buch nur lesen, sagt der Bursche. Die Buchhändlerin bittet, Herr Hartnagel möge doch ein Einsehen haben.
Da betritt eine Abordnung der Anarchistisch-Situationistischen Kulturbrigade Schwabing-West (ASKSW) den Laden: Man brauche zehn Exemplare des rassistisch-reaktionären Machwerks, um es in einem Diskursseminar zu entlarven. Der junge Mann empört sich, der Autor sei überhaupt kein Rechter, sondern habe schon mit Tocotronic „gearbeitet“. Das sei eine infame Unterstellung, tönt eine kurzgeschorene Blondine im Ledermantel. Die postmodernen Wendehälse wollten sich lediglich „ranwanzen“ an den Genius.
Er werde ein Exempel statuieren, deklamiert Herr Hartnagel, weil man sonst in diesem Lande nicht einmal mehr Karl May lesen dürfe, ohne als schwuler Nazi abgestempelt zu werden. Frau Hilwek sagt, wenn das Theater kein Ende nehme, werde sie den gesamten Kracht-Stapel remittieren, worauf die Blonde blafft, ein solches Buch müsse Schullektüre werden, auch in Entwicklungsländern. Darum gehe es ja gerade, skandieren die Anarchisten. Das sei der Gipfel, plärrt ein bärtiger Feuilletonist, der sich am Abend zuvor hinter dem Kinderbuchregal versteckt einsperren hat lassen, um das Buch an Ort und Stelle zu rezensieren, ohne es kaufen zu müssen.
Dass derweil eine Mahnwache des Vereins jüdischer Bundeswehrsoldaten vor dem Laden Stellung bezogen hat, fällt nur Herrn Hartnagel auf. Da, brüllt er, nahten die Türsteher der Rechtslosigkeit, aber er werde so tapfer widerstehen wie damals diesem Hitler, vor dem er nur deswegen emigriert sei, weil es in Südamerika sowieso zivilisierter zugehe. Er solle das Maul halten in Deutschland, kreischt die Blonde. Sie müsse ganz ruhig sein, weil sie mit ihren perversen Tätowierungen wohl die nächste Bundespräsidentengattin werde, brummelt ein Herr mit Gamsbart, der seine bestellte Ludwig-Thoma-Biografie abholen möchte und über die Wirkung seines launigen Ulks höchst bestürzt ist. In das folgende Handgemenge stürzt sich auch der iranische Gemüsehändler von gegenüber, den das Getöse bei seinem Mittags-Salah gestört hat.
Als Frau Reithofer anderntags ihrem Mann die Zeitungsmeldung von einer Massenschlägerei in einer Schwabinger Buchhandlung vorliest, über deren Ursache die Polizei rätsle, einen rechtsextremen Hintergrund aber ausschließe, sagt Herr Reithofer, er gehe sowieso lieber ins Fußballstadion, weil man da sicherer sei.
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