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Die WahrheitEin Pilz, ein Stich, ein Loch im Bein

Kolumne
von Hartmut El Kurdi

Die Wahrheit-Woche der Narben: Selbstverständlich ist mein Körper übersät mit Narben. Und mit Erinnerungen. Da ist zum Beispiel die Narbe an meinem Handballen.

S elbstverständlich ist mein Körper übersät mit Narben. Und mit Erinnerungen. Da ist zum Beispiel die Narbe an meinem Handballen, die entstand, als ich zehnjährig versuchte, mit einem Messer eine selbstgegossene Kerze aus einem Plastikbecher zu popeln. Das Messer brach ab und riss mir einen kleinen Klumpen Fleisch aus der Hand. Fünf Sekunden lang schaute ich verdutzt auf das weiße Loch und dachte: Nanu, das blutet ja gar nicht. Dann dachte ich: O, jetzt blutet es ja doch. Und nach weiteren fünf Sekunden dachte ich: Mist, das kriegen wir nie wieder aus dem Flokati raus. Was übrigens stimmte. Man glaubt gar nicht, welche Mengen Blut aus einer Kinderhand strömen können.

Oder die drei Zentimeter lange Knienarbe, die mich daran erinnert, wie ich im Sommer 1981 zum ersten Mal in meinem Leben ins Mittelmeer sprang. In Jugoslawien angekommen, Rucksack auf dem Campingplatz abgeworfen, zum Strand gerannt, ins Wasser gesprungen, das Knie gegen einen Felsen gehauen – geblutet wie Sau und dann anschließend drei Wochen lang mit einer eiternden Platzwunde auf der Isomatte gelegen.

Aber was die Entstehung meiner eindrucksvollsten Narbe betrifft, muss ich mich voll und ganz auf Augenzeugenberichte verlassen. Ich war fünf Monate alt und lebte noch in Jordanien. Der Arzt hatte bei mir eine Mittelohrentzündung diagnostiziert und griff nun zum Mittel der Wahl: Penicillin. Damals, im Jahr 1965 – gerade mal zwanzig Jahre nach der Markteinführung – galt das Urantibiotikum ja noch als universell und unbedenklich einzusetzendes Wundermittel. Man sah keinen Grund, darauf zu achten, das Medikament oral über einen längeren Zeitraum in kleinen, gut verdaulichen Einzeldosen einzunehmen. Ein schlimmer Aua-Infekt? Spritze einmal aufgezogen und rein ins Kinderärschlein. Aus die Maus. Meine Mutter berichtet gern, dass ihr allein ob der Größe der Spritze und der Dicke der Nadel fast das Herz stehen geblieben sei.

Nun kam leider dazu, dass ich mit einem Podefekt geboren wurde. „Der Junge hat ja keinen Arsch in der Hose“, pflegte mein hessischer Onkel Henner habituell zu sagen, wenn er mich von hinten sah. Deswegen fand auch schon der jordanische Arzt kein stechenswertes Bäcklein, um die grotesk riesige Spritze hineinzujagen. Also rammte er sie mir kurzerhand in den Oberschenkel, presste das dickflüssige Penicillin durch die Nadel und überließ mich, das kleine rotgeschriene Folteropfer, meiner aufgelösten Mutter.

Die Mittelohrentzündung war am nächsten Tag weg, aber dafür hatte ich ein Loch im Bein. Und habe es bis heute. Keine Narbe im klassischen Sinne, sondern eine im Durchmesser fünf Zentimeter große, auffällig tiefe Delle im verhärteten Oberschenkelmuskel. So tief, dass man darunter den Knochen fühlen kann. Der Muskel um das Loch herum ist fest wie eine Sehne und die Haut frei von jeder mich ansonsten plagenden orientalischen Beinbehaarung. Ein nackter, harter Muskelkrater – zum Gedenken an die Opfer der Steinzeitmedizin.

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