Die Wahrheit: Der Mann auf dem Speicher
Pünktlich um fünfzehn Uhr klingelte ich an der Tür des hochherrschaftlichen Hauses. ...
P ünktlich um fünfzehn Uhr klingelte ich an der Tür des hochherrschaftlichen Hauses. Die Gegensprechanlage krächzte die Lottozahlen der Ziehung vom Abend, doch ich verstand kaum etwas, weil die Tür dem Druck meines Oberleibs nachgab und knarrend aufschwang. Vorbei an einem goldgerahmten Monumentalspiegel, in dem ich mich skandalös klein ausnahm, lief ich zur Treppe und sah sofort, dass überall Schreibmaschinen standen.
Meines Wissens war es nicht allgemein üblich, in Treppenhäusern Schreibmaschinen aufzustellen, doch in diesem Haus war, wie ich erfahren hatte, soeben jemand gestorben. Möglicherweise bestand ja zwischen all diesen Erscheinungen ein Zusammenhang? Dieser Gedanke beruhigte mich, und ich machte mir keine weiteren. Gleichmütig begann ich meinen schreibmaschinengesäumten Aufstieg, Dezimeter um Dezimeter.
In der ersten Etage kam mir eine verdächtig aussehende Frau entgegen. Sie erzählte mir unaufgefordert, alle Stofftiere des Verstorbenen mitgenommen zu haben, und zeigte sie mir auch. Darunter war ein so riesiges wie unproportioniertes Einhorn aus rosa Plüsch – ein äußerst zweifelhafter Anblick! „Das lasse ich für meinen Mann mit einer Kunstscheide aus dem Erotikfachhandel nachrüsten“, informierte mich die Frau. Ich war froh, als sie sich an mir vorbeigezwängt hatte, solche Erlebnisse kosten mich immer viel Kraft.
Mit jedem Stockwerk wurde die begehbare Fläche der Stufen schmaler. Trotzdem war es mir möglich, zuletzt ganz oben anzukommen. Der große, schwere Mann, mit dem ich in der aufgelassenen Wohnung verabredet war, fragte zur Begrüßung: „Haben Sie die Kartons mitgebracht? Die großen grauen Kartons?“ – „Die aus dem Kino?“, erwiderte ich unsicher, worauf der Mann sagte: „Meinetwegen.“
Wahrheitsgemäß gab ich zu Protokoll, absolut nichts über irgendwelche Kartons aus dem Kino zu wissen, ich sei nur gekommen, um die Kartons zu holen. „Wollten Sie nicht erst um neunzehn Uhr hier sein?“, forschte der große, schwere Mann weiter. Meine Antwort ließ nicht lange auf sich warten: „Ja, zum Abendessen. Wir sind verabredet.“
Daraufhin bekam der Mann große Augen, hob die dichten Brauen und tastete mit den Händen seinen ganzen Oberkörper ab, als habe er überall an seinem Hemd Taschen, in denen er einen bestimmten Gegenstand vermutete.
„Dann ziehe ich mich bis zum Abendessen auf den Speicher zurück“, ließ er mich zuletzt wissen. Ich riet ihm: „Sie dürfen nichts Essbares mitnehmen, schon wegen der Wespen!“
Er erkundigte sich noch einmal eingehend, ob er zum Abendessen zuverlässig entlassen würde. Dem stünde allein aus gewerkschaftlichen Gründen nicht das Geringste im Weg, erst recht nicht die vielen Schreibmaschinen im Treppenhaus, versicherte ich ihm, und wir unterschrieben in beiderseitigem Einverständnis.
Tatsächlich konnte der große, schwere Mann den Speicher vor dem Abendessen verlassen, da war ich allerdings schon längst mit den Kartons über alle Berge.
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