Die Wahrheit: Aufsteigendes Brennen
Martin Walsers Tagebuch gefunden! Bremen, München, Friedrichshafen.
Immer noch sucht Martin Walser nach seinem verlorenen Tagebuch. Der 85-jährige Schriftsteller hatte es während einer Zugfahrt von Innsbruck nach Friedrichshafen auf dem Sitz liegen lassen. Dort wurde es auch gefunden und inzwischen der Wahrheit zugespielt, die nun Auszüge aus dem Alterswerk des vergesslichen Künstlers veröffentlicht.
Mai, Fahrt nach Bremen
Endlich wieder Sonne! Die finsteren Tage sind heimgeschickt. Ist der März das zarte Kleinkind des Jahres, ist sein Bruder April ein vorlauter Bengel! Unstet und unberechenbar und will das letzte Wort haben! Mit Autorität ist ihm nicht beizukommen, er macht, was er will. Wie Karlsson vom Dach turnt er einem auf dem Kopf herum.
Jetzt ist seine Schwester dran, die holde Maid. Frisch und in den fröhlichsten Farben zeigt sie sich. Ein Backfisch, der seinen Rock beim ausgelassenen Tanze wie ein Teller fliegen lässt. Ein Versprechen, das mich an früher erinnert, als die Säfte einen wie einen jungen Baum durchdrangen. Heute, in den Lorbeerjahren, mag man von so etwas träumen und nimmt, was einem ab und zu vor die Füße fällt. „Lorbeerjahre“ – schönes Wort. Ein Buchtitel?
Mitte Mai, Friedrichshafen, Bahnhofsgaststätte
Hatte heute einen Anruf von Schirrmacher. Ob ich ihm was schreiben würde. Na, so was! Ja, ihm sind die Widerstände im Haus durchaus bewusst, er schätzt mich aber als eine wichtige Stimme (womit er unbedingt recht hat). Ich könnte mir das Thema aussuchen. Alles, so lang es nichts mit Israel zu tun habe.
Habe gesagt, ich würde über die Poesie des Wortes „Bitte“ schreiben. 45.000 Zeichen für die Samstagsausgabe. Knapp 70 Minuten haben wir verhandelt, bis er mir eine Seite zugesagt hatte. Dann sagte er: „600 Euro zahl ich dafür. Weil Sie es sind.“ Ich hab wortlos aufgelegt. Was denken sich diese Menschen? Haben die keinen Anstand?
Am meisten ärgert es mich, ihm meine kostbare Zeit geschenkt zu haben. 70 Minuten! Die Rosen voller Läuse, und ich, statt ihnen zu Leibe zu rücken, mit Schirrmacher am Telefon! Da lob ich mir den Fraßling an der Knospe! Der handelt, wie die Natur es vorgibt, und am Abend hat er ein gutes Tagewerk vorzuweisen. Was man nicht von allen Blattmachern behaupten kann!
Speisewagen, Impressionen
Schöne neue Welt; rotweiß wie Erdbeeren mit Kondensmilch. Beamte auf Schienen. Küchenbeamte. Eine Speisekarte wie ein Formular. Abweichungen nicht möglich. Die Freiheit des Speisens den Paragrafen der Deutschen Bahn zum Fraße vorgeworfen.
Nürnberger wie immer ausverkauft. Sozialistische Bratwurstbeschaffe. Letzte Bastion einer alten Ordnung. Ein Blick. Eine Frau. Ein Ausschnitt. Augenaufschlag über Erbseneintopf mit Wacholderschinken und Minze, die Weiche gibt dem Zug seine neue Richtung. Bäume verkommen zu grünem Hintergrundrauschen. Flüchtige Begegnung des Fortkommens.
Juni, München, Bayerischer Hof
Wie ich diese Gespreizten-Hotels hasse! Ich weiß nicht, was meinem Verlag einfällt, mich in solche Schuppen einzubuchen. „Ja, Herr Walser!“, „Selbstverständlich Herr Walser!“, „Wie es gefällt, Herr Walser!“, „Ja, bitte gern, ja, bitte gleich, Herr Walser!“ Man kann hier kein schnödes Hühnerei bestellen, ohne dass die Lakaien ein Gewese machen, als hätten sie ihr Ich verkauft.
Suhrkamp hatte da mehr Stil. Die wussten, dass Größe sich im Understatement ausdrückt und nicht in der mit Gold übertünchten Schlampigkeit einer billigen Hure. Manchmal frage ich mich, welcher Teufel mich geritten hat, zu Rowohlt zu wechseln. Dann fällt es mir wieder ein, und ich bin ganz froh. Bis auf die Hotels. Da müssen sie noch lernen.
Am Abend, Hotel
Langer, ausgiebiger Spaziergang mit B. durch den Grünwalder Forst. Er hat mir sein neues Manuskript vorgestellt. Drei Jahre Arbeit. Und was hat er vorzulegen? Nur altes, langweiliges Geschreibsel. Ein Roman über die Bedrohung durch den Klimawandel. Ein Wissenschaftler, der vom Saulus zum Paulus mutiert. Natürlich mit einer billigen Liebesgeschichte gespickt. Manchmal, wenn ich mir meine Altersgenossen anschaue, bei Licht, weiß ich wirklich nicht, was da los ist. Alte Geschichten, alte Schrullen. Keine Entwicklung, kein Weiterkommen. Und vor allem: Kein Feuer.
Nach der Lesung in München noch in der „Eiche“ eingekehrt. Die üblichen Aufschneider und Wichtigtuer an der Hefe. Hatte zum Glück mit meinen Magenproblemen einen guten Grund, mich davonzumachen.
Die Rache für die kleine Flunkerei folgte sogleich: Unerträgliches Sodbrennen, als ich mich niederlegte. Es war wieder mal, als führe ein Fahrstuhl unablässig nach oben und mit jedem „Kling!“ des Haltens öffnet sich die Tür und ein Schwall Säure ergießt sich. Der Nachtportier hat mir Maloxan besorgt. Der gute Mann. Kasimir Sandbein.
Dachte zunächst, er wolle mich veräppeln, sich über mich lustig machen. Kein Mensch trägt solch einen dämlichen Namen, außer natürlich meine Figuren. Aber nein, Kasimir Sandbein ist echt. Er hat mir seinen Ausweis gezeigt. Schon sein Vater hieß: Friedrich, Salomon, Kasimir Sandbein. Werde dem Mann ein Buch zukommen lassen.
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