Die Wahrheit: Das letzte Tabu
Heutzutage macht bereits jeder dritte Bewohner eines westlichen Industrielandes statt Strandurlaub irgend was Extremes.
H eutzutage macht bereits jeder dritte Bewohner eines westlichen Industrielandes (Zahl von mir maßlos übertrieben) statt Strandurlaub irgend was Extremes: Bungee-Jumping in Vulkanen, Segeltouren vor der Piratenküste Somalias, Kaffeeklatsch auf dem Kangchendzönga. Dennoch gibt es eine Reiseform, an die sich bisher kaum ein westlicher Pionier gewagt hat: Touren mit einer chinesischen Reisegruppe nämlich.
Ich habe dieses letzte Reisetabu in diesem Sommer gebrochen und war in einem Doppeldeckerbus mit insgesamt 53 Chinesen unterwegs. Wir starteten an einem Montagmorgen am Hamburger Hauptbahnhof und sahen uns in den fünf folgenden Tagen die vier skandinavischen Hauptstädte Kopenhagen, Helsinki, Stockholm und Oslo an. Am Samstagabend wurden wir in Hamburg wieder ausgeladen.
Ich habe auf dieser Fahrt sehr viel gelernt. Das Wichtigste ist wohl der Fakt, dass man vier skandinavische Hauptstädte in fünf Tagen schaffen kann. Ich hatte das nicht für möglich gehalten. Das zweite: Egal, wo ich auf der Welt bin, werde ich für einen Chinesen der Exot bleiben. „Kuck mal, ein Ausländer ist auch dabei“, rief einer aus der Reisegruppe vergnügt, als ich am Treffpunkt der Gruppe eintraf. Noch einmal zur Erinnerung: Wir trafen uns in Hamburg, nicht auf dem Renmin Guangchang in Schanghai.
Interessant war auch das unterschiedliche Angebot in den McDonald’s der vier Länder (Ciabatta-Baguette in Schweden!), denn das waren die Restaurants, in denen wir zu speisen pflegten.
Am meisten habe ich aber von unserem Reiseleiter gelernt, einem Chinesen, der schon länger in Hannover lebt. Zum Beispiel, dass der Name des Tivoli-Vergnügungsparks in Kopenhagen aus dem Englischen stammt. Das Wort sei der Satz „I love it“, nur von hinten gelesen. Oder dass Norwegen zwar nicht zu den Schengenländern gehöre, das Land aber trotzdem Chinesen ohne Visum einreisen lasse, aus lauter Großzügigkeit.
Auch über den seit Ende 2008 in einem chinesischen Gefängnis einsitzenden Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo erfuhr ich etwas Neues: Der habe, so der Führer, wohl irgend was Regimekritisches geschrieben und sei seitdem auf der Flucht.
Am Ende war ich von der Reise sehr begeistert. Ich fühlte mich, als sei ich wieder sechzehn und auf Klassenfahrt. Es gab das gewohnte schlechte Essen, und vorne im Bus stand ein Lehrer, der nicht ganz richtig tickte. Hinten aber gluckte man mit einer verschworenen Gemeinschaft zusammen, die trotz des Mörderreisetempos ganz zufrieden war. Es beschwerte sich zumindest keiner.
Im Gegenteil: Kurz bevor die Fahrt zu Ende ging, buchten einige gleich die nächste Tour. Auch ich hätte bereits wieder Lust, irgendwohin mitzufahren. Nur weiß ich nicht, wofür ich mich entscheiden soll: die viertägige „Eastern Essence“-Tour (Nürnberg, Prag, Budapest, Wien, Salzburg) oder gleich die große „Mediterranean Landscape“-Sause (in einer Woche Frankfurt, Mailand, Monaco, Montpellier, Nîmes, Barcelona, Avignon, Lyon, Dijon)? Bitte raten Sie mir!
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