Die Wahrheit: Ich, Black Righty
Die Autobiografie einer schwarzen Socke.
Es war kalt und viel zu hell, als der Mann meinen Bruder und mich aus der Verpackung zog. Wir hatten etwas Angst, denn wir hatten nie zuvor einen Menschen gesehen, wir kannten ja nur unsere Mutter, die große Strickmaschine, von der wir viel zu früh getrennt worden waren. Doch der Mann sah uns freundlich und gutmütig an und sprach mit sanfter Stimme zu meinem Bruder: „Du bist schwarz und die linke Socke, daher nenne ich dich Black Lefty.“ Und zu mir sprach er: „Du bist ebenfalls schwarz und die rechte Socke. Du sollst Black Righty heißen.“
Von nun an begann eine herrliche Zeit für Lefty und mich. Gemeinsam tollten wir durch die Sockenschublade, wir versteckten uns nach der Karussellfahrt, vor dem Mann, der Rolf hieß, in der Waschmaschine und hatten einen Riesenspaß. Am schönsten aber war es, wenn Rolf uns in seinen Sandalen die Welt zeigte. Wir waren so unbeschwert und dachten, das Leben würde immer so weitergehen.
Eines Tages jedoch fiel ein Schatten auf unser sonniges Dasein. Lefty wurde krank. Die anderen Socken aus der Schublade, Green und Red Lefty, Green und Red Righty und wie sie alle hießen, hatten uns schon vor dieser Krankheit gewarnt, doch wir dachten, uns würde dieses Schicksal niemals treffen. Aber Lefty wurde an der Stelle, wo Rolfs linker großer Zeh ständig an ihm schubbelte, immer dünner, und schließlich konnten wir es nicht mehr verdrängen: Lefty bekam ein Loch, das stets größer wurde. Und als ich dann eines Morgens erwachte, war Lefty fort. Ich habe nie erfahren, was aus ihm geworden ist.
Nun begann eine trübe Zeit für mich. Zwar wurde ich noch ein paarmal zusammen mit Dark Blue Lefty getragen, der auch seinen Bruder verloren hatte, doch wir passten einfach nicht zusammen. Und es dauerte nicht lange, bis Dark Blue Lefty und ich zusammen mit anderen Klamotten in einen großen Sack gepackt und in einen Container geworfen wurden. Mein Herz zerbrach, ich hatte Rolf so sehr vertraut, niemals hätte ich geglaubt, dass er mich weggeben würde. Im Container verlor ich jedes Zeitgefühl, und meine Verzweiflung stieg. Dark Blue Lefty versuchte manchmal, mich aufzuheitern, aber vergebens.
Als der Container endlich entladen und unser Sack geöffnet und entleert wurde, fanden Dark und ich uns in einem rumänischen Waisenhaus wieder. Dark wurde achtlos in einen Karton mit Lumpen geworfen. Mich aber nahm ein Mädchen, das Amalia hieß, zärtlich in die Hand und betrachtete mich aufmerksam.
„Aus dir bastle ich ein Steckenpferd“, flüsterte sie mit strahlenden Augen. Amalia stopfte mich mit Lumpen aus – unter anderem mit Dark Blue Lefty, mit dem ich jetzt für immer verbunden bin –, nähte mir Knöpfe als Augen und Wolle als Mähne an und band mich auf einen Besenstiel. Und seither sind die kleine Amalia und ich unzertrennlich. Wir galoppieren über Wiesen und Felder, und nachts darf ich in ihrem kleinen Bettchen schlafen. Mein Leben wird jetzt für immer glücklich bleiben. Amalia wird mich nie mehr weggeben oder verlassen. Ich vertraue ihr …
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