Die Wahrheit: Ruhe statt Aufruhr
Martin Walsers Tagebuch gefunden! Brighton, London, Hannover, Marseille, Nussdorf, Nürnberg, Salzburg, Amsterdam, Nussdorf.
Immer noch sucht Martin Walser nach seinem verlorenen Tagebuch. Der 85-jährige Schriftsteller hatte es während einer Zugfahrt von Innsbruck nach Friedrichshafen auf dem Sitz liegen lassen. Dort wurde es auch gefunden und inzwischen der Wahrheit zugespielt, die nun Auszüge aus dem Alterswerk des vergesslichen Künstlers veröffentlicht.
Februar, Brighton
An der Beuge des Ärmels weiß man seine Besucher zu empfangen: Auch zu dieser Jahreszeit spielt das Wetterorchester mit einer beschwingten Ouvertüre auf. Die Sonne versteht als Dirigentin die Haufenwölkchen als auch die in Basstonlage grummelnden Cumulonimbusse an ihrem Platz zu halten. Wie der Ton einer Triangel schickt das Licht seine Strahlen immer wieder durch die Fülle der Wettermusikanten.
Hoffe auf Linderung für meine Bronchien, die mir immer noch zusetzen. Käthe macht Spaziergang am Strand, bin im Hotel geblieben. Das Knie. Heute Abend Essen bei Doris Lawrence. Soll aus meinem neuen Roman vorlesen. Schwanke noch zwischen der Szene, in der sich die junge Studentin Blattschub in seinem Professorenbüro anbietet, und der nach dem Koitus zwischen Konrad Blattschub und der Lektoratsleiterin, als er ihr die Auswirkungen der Ölpest auf die US-Wirtschaft darlegt.
Brighton, am Pier, im Café
Des Volkes Vergnügen auf Stelzen im Meer. Das Tableau, auf dem der Brite am Sonntag die Ablenkung und das Spiel sucht, wird heute verhalten von Wellen umspült.
Der Lad – eine englische Ausgeburt wie der Hund von Baskerville. Seit Jahrzehnten in Brighton zu Hause, signalisiert er auch zwanzig Jahre nach Thatcher noch durch seinen Körper, seine Haltung den Anspruch der Arbeiterklasse auf ein ehrliches Arbeiterleben. Die Faust in der Tasche. Zum Sprung bereit. Das Lager an den Lippen.
Im Zug nach London
Großraumwagen, jetzt auch hier. Royales Blau im Königinnenreich. Junge Frauen, auf dem Weg ins Freitagabendvergessen. Auch bei diesen Temperaturen darf der Rock die dicken, weißen Beine nur bis über den oft breiten Po bekleiden. Ihre Dekolletés üppig, über der Üppigkeit blühen Rosen, segeln Tauben oder versprechen Worte das große Mehr: „Two for You“. Gestochen unter die Epidermis des Moments. Ein Statement für die Ewigkeit im kurzen Augenblick der Jugend.
Februar, Hannover
Ein wieder aufgebauter Ort. Die Illusion von Geschichte. Wer sich hier groß fühlt, hat noch nicht begriffen, wie klein er ist.
März, Marseille
Während Deutschland sich noch aus den Winterlaken schält, liegt hier die Jugend des Erwachens in der Luft! Eine Luft, zart wie Batist mit Maiglöckchen-Dessin. Das Meer, das sich genügsam und melodisch wellt, als bereite es sich für den großen Auftritt vor. Die Sonne, die am Morgen die Fischerbote zärtlich umspielt wie eine Löwenmutter ihre Jungen.
Auf der Kaimauer balanciert ein Backfisch in Matrosenbluse, während der Geliebte die Zuckerwatte hält und die Möwen beschwingt ihr Freiheitslied singen. Gutes Entree für Essay zum Thema „Der Euro und sein philosophisches Gewicht“ für Cicero.
Darf die Flasche Pastis für zu Hause nicht vergessen!
März, zu Hause
Die Ausstellung zu meinem Lebenswerk geht nicht recht voran. Habe mich gegen den Plan ausgesprochen, mein Werk durch das bildnerische Werk anderer Künstler begleiten zu lassen. Grass vor allem. Das ist wieder so ein Versuch, sich in den Vordergrund zu drängen, wenn er sein Geklopftes aufstellt und mit seinen billigen Barlach-Imitationen den Raum füllt.
März, Fahrt nach Nürnberg
Habe meine Lesungsunterlagen zu Hause vergessen. Muss im Verlag anrufen, dass sie mir Ersatz faxen.
März, Rückfahrt von Salzburg
Guter Abend gestern. Botho Strauß hat sich als Bewunderer meiner Kunst zu erkennen geben. Nach all den Jahren! Herrliches Entrecote! Mit Möhrenstampf. Selbst der Magen ist in Ruhe statt in Aufruhr.
Wunderbare Zugstrecke durch Hügel erleuchtenden Grüns. Die Jahreszeit frisch und voller Tatendrang einem unverdorbenen Kinde gleich. Wie eine Mutter hat die Natur in satter Liebe ihr blaues Band gewunden. So reich und fürsorglich lässt sie die Blümelein sprießen, auf dass es ist, als reise man durch die blaue Zeit. „Die blaue Zeit“ – guter Titel. Gut auch: „Reise durch die blaue Zeit“. Inhalt: das Übliche.
April, Amsterdam, Hotel
Krämpfe. Alles erschütternde Krämpfe. Der Körper von düsterem Genossen übernommen, der sein Spiel mit mir treibt. Was rauskommt, ist einer Spülung gleich. Habe Lesung abgesagt. Eines der Kinder will mich abholen. Kulturattaché kümmert sich hingebungsvoll um seinen Gast. Doch wie soll man Dichter bleiben, wenn einem zwischen Bett und Toilette die Würde aus dem After prustet?
April, Nussdorf
Betttage. Noch zwei, drei sagt der Arzt. Ernähre mich von Salzletten und Fachinger. Es war wohl der Norovirus. Oder Salmonellen. Die Ergebnisse stehen noch aus. Der deutsche Botschafter hat mir eine Flasche Genever schicken lassen.
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