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Die WahrheitBrillenzwang

Kolumne
von Uli Hannemann

Sexismus ist ja längst nicht die einzige Form der Demütigung. Es geht nämlich auch viel subtiler und alltäglicher, Beispiel Fielmann.

U nlängst hat eine Frau, die in einer großen Dessous-Handelskette arbeitete und wie auch ihre Kolleginnen dabei stets ein Namensschild mit ihrer Körbchengröße tragen musste, ihren Arbeitgeber erfolgreich auf Schmerzensgeld verklagt. Das sollte auch den geschundenen Mitarbeitern von Fielmann endlich Mut machen. Denn Sexismus ist ja längst nicht die einzige Form der Demütigung. Ich möchte jetzt gar nicht von Guantánamo reden. Es geht nämlich auch viel subtiler und alltäglicher, Beispiel Fielmann.

Dort müssen, in der Idee analog zum Skandal in der Dessous-Kette, sämtliche Angestellten Brillen tragen. Es spielt keine Rolle, ob sie schlecht sehen oder gut – dann eben mit Gläsern aus Fensterglas. Es gibt auf der ganzen Welt wohl keinen bescheuerteren Anblick als Brillenträger, und die Fielmann-Mitarbeiter werden von einer Führung, die das nicht kapieren kann oder will, ohne jede Not dem Spott ihrer Umgebung und nicht zuletzt der Kunden ausgeliefert.

Brillenträger sind das Allerletzte. Sie sehen aus wie Androiden vom fernen Planeten Hässlich. Statt menschlicher Augen prangt inmitten der so entstellten Fratze eine Art Doppelfenster mit stählernen Rahmen, durch das der Betrachter in die Hölle und der Betrachtete ins Leere blickt.

Doch was heißt überhaupt „blickt“, es ist nur ein kaltes Reptilienstarren, und wer jeweils Betrachter und Betrachteter ist, bleibt austauschbar – je nach Betrachtungsweise. „Brillenschlange, Brillenschlange“, wird auf dem Schulhof Kindern hinterhergerufen und die Gemeinten können sich nicht wehren, weil sie wissen, dass die Rufer recht haben. Wer eine Brille trägt, hat verwirkt, verkackt, vergeigt.

Vormals auch buchstäblich, denn die Evolution hatte keine Brillenträger vorgesehen. Näherte sich der kurzsichtige Höhlenmensch beispielsweise arglos tastend einem der bis zu fünf Meter großen voreiszeitlichen Säbelzahnmolche, weil er ihn von Weitem für einen Verwandten hielt, waren von diesem Exemplar schon mal keine Nachkommen mehr zu erwarten. Doch da der Mensch das einzige Lebewesen ist, das, zumindest über das sich in Kürze schließende Zeitfenster von hunderttausend Jahren hinweg, in der Lage ist, die Evolution mithilfe von Brillen, Sozialsystemen, Medikamenten oder Fahrrädern mit Hilfsmotor zu verarschen, werden auch die Kurzsichtigen mitgeschleift – zunächst von der schützenden Gesellschaft und später vom Optikergewerbe.

Allerdings spürt der normale, gesunde Mensch selbst nach all den Jahrtausenden der Degeneration beim Anblick eines Brillenträgers noch immer instinktiv, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. Er fühlt das Widernatürliche, das Grauen, riecht unterm Deo den Leichengeruch dieses Untoten der Evolution.

Das vorzugeben also verlangt man von den Fielmann-Angestellten. Fast ebenso gut könnte man ihnen ein Namensschild, auf dem bei jedem nur „Zombie“ steht, verpassen. Das käme zwar aufs selbe raus, aber vielleicht könnten die Betroffenen dann leichter dagegen klagen.

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