Die Wahrheit: Stillleben mit Damen
Stillen in der Öffentlichkeit? Der Eigenmilchimbiss wird im Kontext kultureller Konflikte konträr diskutiert. Ein Blick auf die Tatsachen.
Soll man, darf man, muss man es tun: Stillen in der Öffentlichkeit? Das ist nicht nur die Knobelfrage für den Ethikrat, sondern auch ein herrliches Thema, um Partys in kurzer Zeit garantiert aus dem Ruder laufen zu lassen.
In England gab’s am Wochenende Proteste stillender Mütter, nachdem dort ein Passant eine Frau, die ihr Baby stillte, fotografiert und beschimpft hatte. In den Nachrichten konnte man sehen, wie sich darauf hin eine Ansammlung von etwa zwanzig Ladys vor einer Hauswand auf die Straße pflanzte, die Brüste entblößte und offensiv den Nachwuchs stillte.
Dieses Gruppenstillleben mit Damen wirkte nicht unkomisch, und man hätte sich gewünscht, dass die Gegenpartei – der das Stillen in der Öffentlichkeit ablehnende Personenkreis – auch gekommen wäre, um sich direkt gegenüber aufzubauen und dann angewidert die Augen zuzuhalten.
Es gibt Argumente, und es gibt, wie stets, Gegenargumente, die in dem dramatischen Schicksalsdilemma vorgetragen werden: ob Mütter eher im Stillen stillen sollen oder nicht – und sie lassen sich endlos aneinanderreihen und variieren. Wenn der alte weise König und Bescheidwisser Salomon hier eine Entscheidung hätte treffen müssen, was richtig sei und was daneben, was notwendig und was geschmacklos, was völlig normal und was ordinär, er würde in aller seiner Weisheit gesprochen haben: „Nächste Frage bitte.“ Wer hier nichts sagt, der sagt nichts Falsches.
Schieflagen unserer Kultur
Was soll man auch halten von Leuten, die sich ohne Zucken ein Sekret aus dem Euter von Milchkühen in den Kaffee tun und sich in der gleichen Schrecksekunde über Mütter empören, die ihrem Kind einen Eigenmilchimbiss verabreichen? Natürlich ist das Stillen im Café so natürlich wie Sex im Stadtpark. Nackte weibliche Brüste sind in der Regel als Appetizer überall willkommen, im Film, in der Werbung, in der Autowerkstatt.
Zwischen den Parteien, die hier Pro und Contra durchdrehen, herrscht ein hochenergetisches Gleichgewicht der beknacktesten Rechthaberei. Auf der einen Seite scheint ein seltsamer Stillzwang über manche Frauen kommen, der sie an den unpassendsten Orten dazu zwingt, kompromisslos blank zu ziehen – auf der anderen Seite finden sich auch immer wieder Leute mit Empörungs- und Belästigungsreflexen, um sich an diesem Vorgang aufzuspulen und hochzupitchen.
Dass es in Deutschland zwar ein Gesetz gibt, das Bundeswehrsoldaten gestattet, sich in Uniform auf der Straße zu zeigen, aber keines, das Müttern erlaubt, öffentlich zu stillen, gehört wohl zu den Schieflagen unserer Kultur.
Erlaubt ist offenbar alles, was überhaupt nicht gefällt
Die eigentlich interessante Frage bei diesem Streit ist ja, warum er so interessant ist. Das öffentliche Verzehren einer Bratwurst ist auch nicht gerade nett anzusehen, und es hat den Anschein, dass betrunkene Männer, die in eine S-Bahn-Ecke göbeln, mit mehr Verständnis rechnen dürfen, als die ihre Babys an der Supermartkassenschlange säugenden Mütter.
Erlaubt ist offenbar alles, was überhaupt nicht gefällt. Der Muttermilchkomplex ruft zuverlässig perverse Lust- und Ekelwallungen auf den Plan, sexuelle Tiefenstörungen brechen sich Bahn – ein schleimiges Terrain. Vor Jahren gab’s in London, also ebenfalls in England, ein Café, das sich Baby Gaga nannte und Eis aus Muttermilch verkaufte. Das Muttermilcheis war der Riesenrenner, doch der Laden musste irgendwann aus hygienischen Gründen schließen. Wer Eis aus Muttermilchresten schleckt, der raucht dazu vielleicht eine Zigarre aus getrocknetem Altherrenkot.
Noch gut in Erinnerung ist, wie Jürgen Drews in einer Talkshow seine Frau Ramona dafür pries, dass sie ihm Milch aus ihren Brüsten abmelken könne, und genau das wurde vor den Kameras tatsächlich demonstriert. Dankenswerterweise fand diese Technik keinen Eingang in das Portfolio romantischer Liebesbeweise – die Nummer ging als Tittenspritzskandal in die TV-Geschichte ein.
Was soll man tun? Burkas ausgeben für Frauen mit Säugling? Augenklappen für den cholerischen Feingeist? Stillfreie Zonen einrichten in Cafés? Kann ein Nachtstillgebot hier helfen? Schwer zu sagen. Zu schön wäre nur, wie gesagt, wenn bei der nächsten großen Gruppenstilldemonstration, in England oder wo auch immer, auch die Gegner sich versammelten, um wild entschlossen wegzugucken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Analyse der US-Wahl
Illiberalismus zeigt sein autoritäres Gesicht
Biden hebt 37 Todesurteile auf
In Haftstrafen umgewandelt
Jahresrückblick Erderhitzung
Das Klima-Jahr in zehn Punkten