Die Wahrheit: Zwischen Macken und Interessen
Vor der Volksabstimmung über die Tempelhofer Brache buhlen in Berlin zwei Initiativen um Stimmen. Doch Begeisterung rufen sie nicht hervor.
Das Gelände des ehemaligen Flughafens Berlin-Tempelhof ist die wohl größte Brache der Welt. Nach langem Streit sollen demnächst die Berliner in einer Volksabstimmung darüber entscheiden, was mit der Fläche geschehen soll. Vor wenigen Jahren schlug der Architekt Jakob Tigges vor, auf dem Tempelhofer Feld einen tausend Meter hohen Berg mit zwei Gipfeln aufzuschütten, samt Skipisten, Bergziegen und Almhütten. Er glaubte leider selbst nicht recht an die Verwirklichung seines Plans, der sodann auch bloße Fantasie blieb.
Hätte man den Berg bloß damals aus dem Boden gestampft! Wie viel Zank und Hader wäre der Stadt und dem Erdkreis erspart geblieben! Und kein Tourist müsste mehr so scheußlich viel Geld für eine Fahrt auf den Fernsehturm ausgeben, um auf Berlin herabsehen zu können.
Zwei Initiativen buhlen um die Zustimmung der Berliner. Da ist auf der einen Seite eine Große Koalition aus CDU und SPD, Handelskammer und Gewerkschaftsbund, Wohnungswirtschaft und Landessportbund. Aus Liebe zu Berlin und den Berlinern kämpfen diese Lobbyisten um die Möglichkeit, durch eine Bebauung der Brache Geld zu verdienen oder Grundstücke zu ergattern. Aber die Entscheidung fällt dem Wähler nicht leicht, denn die gegnerische Partei der Idealisten ist mindestens ebenso sympathisch.
Notorische Berufsquerulanten
Angeführt von notorischen Berufsquerulanten wie Felix Herzog setzen sich Öko-Muttis und Langzeitstudenten mit zu viel Freizeit dafür ein, das Feld so zu erhalten, wie es jetzt ist: leer. Das Tempelhofer Feld entspricht genau ihrer Vision von Gesellschaft: ein breites und plattes Nichts, auf dem sich Singles und Kleinfamilien in möglichst großem Abstand zueinander mit Individualsport die Zeit bis zum Tod verkürzen können.
Andernorts in der Stadt zwingt die Enge die Menschen dazu, Kontakt miteinander aufzunehmen. Hier auf dem Tempelhofer Feld joggen und biken, skaten und gliden die jungen Leute gepflegt aneinander vorbei. Eine Idylle, die nicht zerstört werden darf! Unterstützt werden die Idealisten noch von den Linken und den Grünen, die zwar eigentlich auch bauen wollen, aber gerade Opposition spielen und deshalb ihre Überzeugungen der politischen Taktik opfern müssen.
„Spätkapitalismus“, so nennen unverbesserliche Weltverbesserer seit den Siebzigern die Zeit, in der wir leben. Sie wollen sich durch diese Bezeichnung wohl selbst Mut machen. Aber die Prophezeiung will und will sich einfach nicht selbst erfüllen. Der Kapitalismus ist quicklebendig und zeigt nicht die geringste Neigung, bald von der Weltbühne abzutreten. Er trotzt den schlimmsten Krisen und den besten Argumenten.
Demokratie beim Verfall
Der Historiker Georg Fülberth meint, der Kapitalismus könne uns noch etwa 500 Jahre erhalten bleiben. Sein Ende könnte aber wohl auch mit dem Weltuntergang zusammenfallen. Während der Kapitalismus aussieht, als entsteige er jeden Morgen einem Jungbrunnen, zeigt die Demokratie starke Alterserscheinungen. Sie ist verknöchert und verkalkt, vom Krebs der Korruption zerfressen, vergesslich und verwirrt. Mancherorts pfeift sie auf dem letzten Loch oder liegt schon im Koma. Ihre Erben reiben sich am Krankenbett bereits die Hände. Die Demokratie wird eine Menge Kapital hinterlassen, mit dem sich ohne die störrische Alte viel effektiver schalten und walten ließe.
Die Volksabstimmung über das Tempelhofer Feld ist eine wunderbare Gelegenheit, der Demokratie beim Verfall zuzuschauen. Die Begeisterung des Volkes ist mäßig, die Leute spüren wohl doch, dass sie nur dazu herhalten sollen, zwischen den egoistischen Macken der einen und den egoistischen Interessen der anderen zu entscheiden.
Entsprechend lustlos sind auch die Kampagnen: Die Idealisten setzen darauf, dass die Berliner gerne mal dagegen sind. Und die Konstruktivisten gehen davon aus, dass die Berliner nicht richtig lesen können. Sie plakatieren in den Straßen den Slogan „100% Berlin“, damit die Wähler ihren Antrag mit dem der Gegner verwechseln, die „100% Tempelhofer Feld“ fordern. Auf dem Wahlzettel wird man sich zwischen dem „Gesetz zum Erhalt des Tempelhofer Feldes“ und dem „Gesetz zum Erhalt der Freifläche des Tempelhofer Feldes“ entscheiden können. Finde den Unterschied!
Es bleibt ein Trost: Die Berliner können nach herrschender Gesetzeslage ihr Kreuz auch bei beiden Initiativen machen. Sollten dann beide gleich viele Stimmen erhalten, so werden vermutlich Wohnungen erst gebaut und sofort wieder abgerissen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht