Die Wahrheit: Wahn und Wahrheit um Bückeburg
Eine Landpartie mit Roller wird noch schöner, wenn man einen Klassiker der Philosophie im Gepäck mitführt. Unterwegs mit Herder und Vespa.
I m Hof wartete meine ferrarirote 125er Vespa ungeduldig darauf, einen Ausflug zu starten. Die Sonne schien in frühlingshafter Frische und ich wollte dem Motorroller die dringliche Bitte erfüllen. Zumal er demnächst seinen 30. Geburtstag feiert, ein hochbetagtes Alter bei diesen Gefährten. Wer weiß, wie lange er noch so munter durch die Landschaft juckeln wird. Man steckt ja nicht drin, wie meine Großmutter väterlicherseits zu sagen pflegte, ehe sie zehn Jahre vor meiner Geburt starb.
In welche Richtung würden die Vespa-Lady und ich cruisen? Der Nase nach? Augen zu und durch? Dem Herzen folgen? Den Nierengurt nicht vergessen! Endlich überkam die Vespa und mich eine Erleuchtung. Auf gezickzackten Wegen, deren Windungen ich nicht mehr durchschaue, war ich vor Kurzem auf Johann Gottfried Herders „Briefe zu Beförderung der Humanität“ aus dem Jahre 1794 gestoßen. Der Gelehrte Herder – Schriftsteller, Übersetzer, Theologe, Philosoph – geht ans Eingemachte und hebt an:
„Ohne Zweifel“ habe man „bei der Zergliederung menschlicher Körper die vielen, unendlich feinen Striche bemerkt, die im Gehirn dergestalt durch einander laufen, daß sie das Messer des Zergliederers nicht mehr verfolgen kann.“
Dies Messer hat sich mittlerweile mikroskopisch verkleinert, rückt näher heran an die unendlich feinen Striche, das schmälert den Text interessanterweise nicht: „Eben so fein und vielleicht noch feiner laufen in der menschlichen Seele die Linien des Wahnes und der Wahrheit durch einander, daß man nach der sorgfältigsten Prüfung kaum an sich selbst weiß, wo Eins sich vom Andern scheide.“
Herders Ansicht und seine Argumente, für die es hier an Platz mangelt, entsprechen meiner Auffassung so sehr, dass Gedankenblitze zuckten. Bald fiel mir ein, dass Herder einige Jahre als Hofprediger in Bückeburg lebte. Die Tatsache muss ich laut ausgesprochen haben, jedenfalls meinte die Vespa: „Halt! Bückeburg liegt doch nur etwas mehr als 50 Kilometer von hier entfernt. Let’s roll, ihm zu huldigen!“ So sprach sie und sprang problemlos an.
Zwischen Horsten und Kobbensen lenkten mich die leuchtend gelben Rapsfelder ab. In Hörweite stieg ein Song von Van Morrison herauf: „Behind the ritual, you find the spiritual“. Der Wind wehte mächtiger als ohnehin schon und wir gerieten bei 90 Stundenkilometern in bedenkliches Wackeln, was auch an meinen kümmerlichen Fahrkünsten gelegen haben mag. Ich bangte um die Vespa, letztlich auch ein wenig um mich. Indessen setzte Herder seinen Vortrag fort, der Text war im Gepäck verstaut: „Wenn alles das Wahn ist, was wir ohne deutliche Gründe auf guten Glauben annehmen: so ist der größeste Theil unsrer Erfahrungen, unsre frühgelernte Kenntnisse, unsre früherworbne Gewohnheiten, und Neigungen auf Wahn gegründet.“ Passte sein Diktum vielleicht gerade nicht? Egal.
In Bückeburg angekommen, war Herder dann auf der Stelle zu verehren. Kurzum: eine wahrhaft und wahnsinnig schöne Landpartie.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!