piwik no script img

Die WahrheitVorwärts immer, rückwärts nimmer

Kolumne
von Christian Ritter

In der Evolution hat sich der Vorwärtsgang durchgesetzt – nur bei Hunden und schwedischen Kindern nicht.

K inder und Hunde haben viel gemeinsam. Sie sind süß, tapsig, und man redet mit besonders hoher Stimme zu ihnen. Außerdem machen beide hin, wohin sie wollen, und geben sonst nicht viel her. Bis auf das Gefühl, dass sie Zuneigung und Liebe nötig haben, um zu überleben. Deshalb mögen wir sie ja.

Viele Kinder entwickeln sich über das Hundestadium hinaus. Aber auch solange sie geistig relativ gleich entwickelt sind, haben Kinder die größere Lobby.

Beruhigend erscheint da, dass der moderne Hund dem modernen Kind immerhin eine Sache voraus hat. Der Hund kann rückwärts laufen. Das Kind nicht. Nicht mehr zumindest. 2008 belegte Prof. Dr. med. Helge Hebestreit von der Uni-Klinik Würzburg in einer Studie, dass 80 Prozent der Drei- bis Fünfjährigen einfach umfallen, wenn sie rückwärts laufen sollen. Da der Rückschritt niemals Halt macht, ist heute mit einer Quote von 90 Prozent Umfallern zu rechnen. Nach einer nichtrepräsentativen Umfrage unter zwei Erziehern sind es gar 100 Prozent. „Ein großer Spaß“, sagen 50 Prozent der Befragten. „Wenn die Rotznasen mich nerven, werfe ich einfach den Ball etwas zu hoch zu, dann gehen sie zwei Schritte zurück und fallen hin.“

Die Ursachen der motorischen Rückbildung sind bekannt: Man setzt die Bälger vor die Playsi, drückt ihnen ein iPhone in die eine und eine Rolle Pringles in die andere Hand, dann ist Ruhe im Karton. Fußballspielen wollen sie eh nur alle vier Jahre, wenn Deutschland Weltmeister wird. Tennis ist ziemlich out und Turnen ziemlich gay. Und wer klettert schon freiwillig auf Bäume, baut darauf Häuser, obwohl er schon in einem wohnt? Verklärte Vorstellungen von Kindheit, die höchstens noch in Skandinavien Umsetzung finden!

Denkt man genauer über die „schockierenden“ Ergebnisse der Studie nach, fällt auf: Eigentlich hat man auch früher nicht besonders viele Kinder rückwärts laufen sehen. Außer in Schweden natürlich. Dort tun Kinder bekanntlich kaum was anderes. Vielleicht – und die Frage muss erlaubt sein – ist es evolutionär sogar sinnvoll, dass man sich nur noch nach vorne bewegt? Wir haben ja auch keine Schwimmflossen mehr zwischen den Zehen, und das aus gutem Grund (Flipflops).

„Die Koordinationsfehler der Kinder führen oft dazu, dass Unfälle passieren“, sagt Professor Hebestreit in einem Interview. Aber wie viele Unfälle könnten vermieden werden, wenn die Kleinen das mit der Koordination erst gar nicht versuchten? Wozu einen Ball fangen? Was hat die Zungen- an der Nasenspitze zu suchen? Wie bringt einen das weiter auf dem Arbeitsmarkt? Fragezeichen!

In einem Bildungssystem, das auf Fremdbestimmung bis zum Hochschulabschluss angelegt ist, tanzt man nicht aus der Reihe, da geht es immer nach vorne. Die Umfaller sind bequem wegzufegen. Wo würden wir hinkommen, wenn da jeder seine eigenen Mätzchen macht? Es entwickelt sich schon alles ganz gut so. Um sicher zu gehen, dass es so bleibt, sollte man das Rückwärtslaufen überhaupt verbieten. Außer bei Hunden, da ist es süß.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!