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Die WahrheitDie Erfüllung der Forderung

Kolumne
von Eugen Egner

Eine Straße in die Vergangenheit. Eine Einladung in ein Haus aus einer anderen Zeit. Eine Frau von gestern. Wohin soll das bloß führen?

S tattdessen machte ich einfach weiter. Ich lief durch die Straßen, durch die ich vor vierzig und mehr Jahren gelaufen war, und wunderte mich, dass ich nicht dieselben Leute wie damals traf. In einer Seitenstraße traf ich den Kosmos. Wäre er das Formalhuhn gewesen, hätte ich ihn mit den Worten angesprochen: „Heda, Formalhuhn, wo gehst du hin am sündigen Donnerstag?“ Doch war er nicht das Formalhuhn, und ebenso wenig war Donnerstag.

Zuerst erkannte der Kosmos mich nicht, denn ich trug neue Schuhe. Sobald er aber meine Verkleidung durchschaute, wurde er zutraulich. „Habe ich erwähnt, dass der Himmel wieder meine Hose getragen hat?“, fragte er. Darauf mochte ich nicht eingehen, weil ich fürchtete, in etwas hineingezogen zu werden, das mich erstens nichts anging und mir zweitens gewiss nur Ärger einbrachte. „Ich muss weiter“, sagte ich und ließ den Kosmos stehen. Zweifellos hatte ich rüde an ihm gehandelt, aber was ging mich seine Hose an!

Zwei Blocks weiter passierte ich das Haus, in dem der Heide Sondermann wohnte. An seinem bis auf die Straße schallenden Pressspangebrüll konnte ich ablesen: Er konvertierte zum Puddingessen. „Der Heide Sondermann baute die Sondermann-Orgel im Biertunnel“, wird immer behauptet, dazu möchte ich mich nicht äußern, denn wir leben längst in Verhältnissen, die keine freie Meinungsäußerung mehr zulassen.

Jemand (weder der Kosmos oder das Formalhuhn noch sonst jemand, den ich kannte) sah aus einem Fenster in der ersten Etage und lud mich ein: „Kommen Sie doch herein!“ Ich war noch nie gut im Identifizieren von Menschen, eventuell hatte ich es mit einem weiblichen Exemplar zu tun. Laut Handbuch konnten die Körpermerkmale so gedeutet werden, daher will ich im Folgenden vorsichtshalber Worte wie „sie“ und „Frau“ verwenden.

Es ist beileibe nicht originell, wenn ein Passant zum Betreten eines ihm fremden Hauses eingeladen wird. Dergleichen dürfte in zahllosen Geschichten vorkommen, allerdings bin ich da auf Vermutungen angewiesen, denn ich kenne keine Geschichten. Ich vermute zudem, dass ich schließlich in einer sogenannten Küche landete.

Die Frau, die mich hereingebeten hatte, saß am Tisch und beachtete mich nicht. Unerschütterlich aß sie die stärksten Fleischsorten, ohne Rücksicht auf mein zartes Gemüt zu nehmen. Einer schlechten Angewohnheit nachgebend, versuchte ich, eine Konversation zu eröffnen. „Fleisch wird zum Welterbe erklärt“, war alles, was mir einfiel. Darauf erfolgte keine Reaktion. Ich versuchte es also anders: „Sie essen, als hätten Sie einen zweiten Magen draußen in den Bäumen.“ – „Das hätte mein Doktorvater sagen können“, meinte die Frau, „er hat immer gesagt: ’Die Leistungsinfrastruktur muss ausgebaut werden.‘“

Jäh wurde ihr klar, dass sie berufen war, diese Forderung ihres Doktorvaters zu erfüllen. Noch am selben Nachmittag war es so weit: Zum Ausbau der Leistungsinfrastruktur stellten wir vor dem Rathaus einen selbstgebauten Kasten auf, in dem wir wochenlang schnarchend saßen.

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