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Die VorschauGezeichnet: Adolf Hitler

■ Die Vorschau: Am Freitag liest Friedrich Christian Delius in Bremen aus seinem neuen Roman „Die Flatterzunge“

Ich glaub, ich bin im Kino. Ganz klein, am Ende des Abspanns: Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen wäre rein zufällig. Wenn Friedrich Christian Delius seiner aktuellen Erzählung „Die Flatterzunge“ einen solchen Hinweis voranstellt, muss es damit eine besondere Bewandtnis haben. Juristische Bedenken des Verlags?

Mag sein. Doch es ist mehr: Denn natürlich sind die Figuren „realen Personen nachgebildet“ und nicht wirklich „frei erfunden“. Den Ich-Erzähler kennen Sie. Nicht persönlich, aber aus Print- und Bildmedien. Beispielsweise aus dem Blatt, das Sie gerade in den Händen halten.

Der Mann, der bei Delius „Hannes“ heißt und dessen Vorbereitung auf eine arbeitsrechtliche Gerichtsverhandlung sich zu einer skurrilen Lebensbeichte auswächst, ist exakt jener Berliner Musiker, der nur so zum Spaß in Tel Aviv, wohin er zwecks Gastspiel gereist war, eine Rechnung mit „Adolf Hitler“ unterschrieb. Oder ist er es doch nicht? Eher eine Kunstfigur des Berliner Autors, die immer gerade so an der Wirklichkeit vorbeischrammt?

„Die Flatterzunge“ ist ein Geständnistext. In (dann doch fiktiven) Kindheitserinnerungen, Schilderungen von Begegnungen und Gedanken über die Liebe zur Posaune wie zur Musik überhaupt lässt Delius seinen Ich-Erzähler Themen wie Schuld und Verantwortung, Erinnerung und Geschichte wieder und wieder umkreisen.

Hannes klagt auf Wiedereinstellung in dem Orchester, das ihm ganz unbürokratisch flugs ein Ticket Tel Aviv-Berlin besorgt hatte. Interessant wird es, wenn er genau das scharfzüngig kritisiert, was ihm zur Last gelegt wird. Nämlich den all zu sorglosen Umgang mit dem Nationalsozialismus und seinen Nachgeschichten.

Geschickt führt Delius uns in seiner kurzen Erzählung aufs moralische Glatteis. Man ertappt sich dabei, in die Gedanken des vielleicht doch nicht so eindeutigen Neonazis Hannes einzutauchen. „Alle wären froh, wenn ich nach Jamaika verschwände oder in ein Kloster, dann wären sie das Problem und die Schande los, die ich über Deutschland gebracht habe.“

Seine Kritik an der Doppelzüngigkeit bundesrepublikanischen Sprechens von der Vergangenheit ist plausibel. Und doch mag man diesem Mann nur sehr ungern folgen. Denn alles gerät ins Rutschen, sobald Hannes sich selbst zum Sündenbock stilisiert.

„Die Flatterzunge“, das meint die Spieltechnik des Instruments. Es meint aber auch das Sprechen. Wenn die Worte flattern. Und der Sinn nicht mehr eindeutig ist, geschweige denn das Motiv oder gar das Urteil darüber. „Die Flatterzunge“ lässt das Leben am von Arbeitslosigkeit und Vereinsamung bedrohten Hannes vorüberziehen. Ein langsamer Tod. Selbstmord? Opfer einer viel größeren Infamie? Klar ist nur, dass die Existenz des schrulligen Musikers schon vor dem Vorfall am Zerbröseln war. Lange davor. Ein ganz normales deutsches Leben der zweiten Jahrhunderthälfte, dem Delius unprätentiös und kurzweilig seine Stimme leiht. Tim Schomacker

Der Schriftsteller Friedrich Christian Delius liest am Freitag, 17. September, um 20 Uhr in der Stadtwaage, Langenstraße 13, aus seinem kürzlich veröffentlichtem, neuen Buch „Die Flatterzunge“(1999 bei Rowohlt erschienen zum Preis vom 29,80 Mark)

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