AUSGEHEN UND RUMSTEHEN VON KIRSTEN RIESSELMANN : Die Vor- und Nachteile des schnuckeligen Grandprix-Gewinners
ÜBER EIN LANGES WOCHENENDE MIT ANGESTELLTENFREUNDLICHEM BRÜCKENTAG
Das Wochenende war lang und voller nachhaltiger Geschehnisse. Eine „Unschuld“ machte auf dünnen Beinchen das Rennen um den Auftritt auf einem Magazin-Cover, ein Österreicher erhielt in Frankreich eine Palme als „perfekter Nazi“. Brad Pitt zog gekränkt doch nicht nach Berlin. Ein Präsidentle wurde wiedererkoren, und ein Automobilkonzernchef fuhr neben einem schwarzen Fußballer im offenen Wagen durch die ehemalige Kraft-durch-Freude-Stadt. Die ein, zwei Freunde in Festanstellung schwärmten von ihrem „Brückentag“. Prenzlauer Berg bekam unter dem Motto „Staat. Nation. Kapital. Scheiße“ schöne Pyrotechnik frei Haus und hat umsonst um seinen Prater gefürchtet. Wie durch ein Wunder nämlich hielt das Gebäude noch stand, als die Mariachis von SunnO))) es am Sonntagabend mit ihrem hehren Tieffrequenz-Nepp in eine Kunstnebelkathedrale der Beckenbodenmassage umwidmeten.
Begonnen hatte all dies Ominöse schon am Mittwoch, als das gleichzeitig großnamige wie mutlose Spex-Festival die Mitte der Welt ihres Status beraubte. Wenn Hellmuth Karasek und rehäugige Hetenpärchen die Darkrooms des Berghain besichtigen wie die Pyramiden von Gizeh, ist Schluss mit Lust. Da hilft dann auch der Aufdruck „Fuckin’ Hell“ auf DJ Hells breiter Kfz-Schlosser-Brust nicht mehr.
Am Donnerstag war invertierte Himmelfahrt, alles kam von oben nach unten. Der Starkregen legte DVD-Time mit der fünften Staffel „Lost“ nahe.
Der Freitag wird dem Nichthippen gewidmet. Man stärkt sich im „Tiki Heart“ auf der Wiener Straße mit „Beef-Burger Lemmy“, der laut Speisekarte in einem Jack-Daniel’s-Sud gegart wird. Im Anschluss geht es nach ewigen Zeiten mal wieder in den Tropfsteinkeller des White Trash, wo drei Bands vor netten, langhaarigen Jung- und Altmännern eine Stoner-Rock-Nacht bestreiten. Einer Freundin stehen wegen der aufkommenden guten JuZe-Erinnerungen mehrfach die Tränen in den Augen, sie bewundert die unschuldige Stupsnase des Bassisten von Graveyard und stört sich nicht daran, dass er ein dunkelbraunes Samtjackett trägt. Der Chef von Witchcraft hat ein T-Shirt mit Pferden drauf. Möglicherweise ist es auch das letzte Einhorn. Auf dem Trottoir liegen die beseligten Berlin-Touristen auf dem Rücken und betrachten die Sterne.
Am Samstag werde ich auf die Geburtstagsfeier eines im Springer-Konzern beheimateten Wirtschaftsjournalisten mitgeschleppt. Surprise: Meine Freundin und ich sind die einzigen Frauen, der Rest der Gesellschaft ist schwul und debattiert die Vor- und Nachteile des schnuckeligen Grandprix-Gewinners. Es wird Klosterfrau-Melissengeist-O gereicht. Schmeckt wie Campari-Orange auf Krankenhaus, semmelt aber mit der erstaunlichen Präzision des 79-Prozentigen direkt unter die Schädeldecke.
Ein Partygast, dem irgendwann ein Teelöffel aus der Tasche fällt, erzählt vom Lieblingsessen seiner Ost-Kindheit: Jawuschni-mitoso-unu. Steht für „Jagdwurstschnitzel mit Tomatensoße und Nudeln“ und macht keine Lust auf eine Kostprobe. Später kursiert das Gerücht, der Werbefachmann, dem der irre originelle Stadtmarketingslogan „Be Berlin“ eingefallen ist, sei auch da gewesen.
In der Schlange vorm Scala schieben wir uns pflichtbewusst zu vorgerückter Stunde Richtung „Closing Party“. Als wir endlich vor dem Türsteher stehen, bekommt der die Order, niemanden mehr reinzulassen. Entbunden vom Standard-Clubbesuch radeln wir beschwingt in den humaneren Amüsementpark Kreuzberg, stehtanzen im „Hotel“ zu Motown Soul, fragen uns, ob das karierte Küchentuch über dem langstieligen Kochlöffel an der Wand in dekorativer Absicht da hingekommen ist, beschließen aber dann großmütig, die Kreideinschrift im Türrahmen einfach mal nicht peinlich zu finden: „Home“.