: Die Utopie am Trapez
CANNES CANNES 5 Der „Film Socialisme“ von Jean-Luc Godard: Bilder bedrängen sich, Sprachen konkurrieren, zitiert wird auch
VON CRISTINA NORD
Jean-Luc Godard kommt nicht nach Cannes. „Lieber Thierry Fremaux,“ schreibt er in einem Brief, den die Zeitung Libération abdruckt, „ich gehe mit dem Festival bis in den Tod, aber keinen Schritt weiter.“ Als er vor sechs Jahren „Notre Musique“ an der Croisette präsentierte, überließ er die Pressekonferenz den Bühnen- und Filmarbeitern, die damals streikten und gegen eine für sie unvorteilhafte Gesetzesänderung protestierten. Diesmal bleibt Godard, inzwischen 79 Jahre alt, zu Hause in Rolle, einem Ort am Schweizer Ufer des Genfer Sees, unweit der Kleinstadt Nyon, in der er aufwuchs. Seine Steuern freilich zahlt er, darauf legt er Wert, in Frankreich.
„Film Socialisme“ heißt sein jüngster Essay. Den Titel, sagt Godard in einem Interview, hatte er sich ausgedacht, bevor er konkrete Vorstellungen von dem Film gewann. „Film Socialisme“ läuft in der Nebenreihe „Un Certain Regard“, nicht im Wettbewerb des Festivals, obwohl der in diesen Tagen auf der Stelle tritt und für jede Abwechslung dankbar sein sollte.
Eine Abwechslung ist „Film Socialisme“ allemal, eine riesige Herausforderung dazu. „Man muss alles in einem Film unterbringen“, hat Godard einmal gesagt, und „Film Socialisme“ versucht genau das. Ägyptische Schriftzeichen, die Treppe von Odessa, die entsprechenden Szenen aus „Panzerkreuzer Potemkin“, ein Kreuzfahrtschiff, das Mittelmeer, Patti Smith, ein Fischschwarm, Alain Badiou, Antigone und der Nahostkonflikt, sie alle und noch viele andere teilen sich den Raum dieses Films, überlagern sich, konkurrieren, korrespondieren oder streichen sich gegenseitig aus.
Eine flüchtige Ordnung schaffen die drei Kapitel, „Des choses comme ça“, „Quo Vadis Europa“ und „Humanités“, eine gewisse räumliche Ordnung entsteht durch die Stationen der Kreuzfahrt: Ägypten, Odessa, Hellas, Neapel und Barcelona. Kaum nähert sich der Film Palästina, taucht eine Schrifttafel auf: „Access denied“.
Die assoziative Montage ist eine Herausforderung für den Zuschauer, da die wenigsten Einstellungen darauf zielen, ohne weitere Umstände dechiffriert zu werden. Schon in sich bergen die einzelnen Bilder Rätsel. Oder wie ist ein Lama an der Zapfsäule einer Tankstelle zu erklären, neben ihm eine junge Frau, vertieft in einen Roman von Balzac, während aus dem Off deutsche Touristen nach dem Weg an die Côte d’Azur fragen? Man muss dieses unvermittelte Nebeneinander akzeptieren, und man muss auch akzeptieren, dass sich der Film in seine Mehrsprachigkeit einrollt, ohne sich um Übersetzung zu kümmern. Meistens sprechen die Figuren französisch, die englischen Untertitel machen daraus eine entschlackte, auf Schlagworte reduzierte Fassung. Manchmal wird arabisch, deutsch oder italienisch geredet.
In einer Szene – der zitier- und aneignungsfreudige Godard nimmt sie sich aus Agnès Vardas Filmautobiografie „Les Plages d’Agnès“ – schwingen zwei Trapezkünstler durch die Luft. Man sieht ihre konzentrierten Bewegungen vor azurblauem Hintergrund, man sieht, wie sie sich von den Stangen lösen, einander zufliegen und sich auffangen, wie sie einen flüchtigen Sieg über die Schwerkraft erringen. Aus dem Off erklingt ein Sprachwirrwarr, es könnten hebräische und arabische Sätze sein.
Godards Filme stellen immer wieder die Frage, wie man Konflikte, wie man geschichtliche und politische Verwerfungen darstellen kann, und einer der Konflikte, auf die er immer wieder Bezug nimmt, ist der zwischen Israel und Palästina. Die Antwort auf die Frage der Darstellbarkeit ist: Wenn überhaupt, dann geht es nur über Umwege. Die Artisten am Trapez beschreiben vielleicht einen solchen Umweg, einen utopischen Moment in einer hoffnungslosen Gegenwart.
Es ist lange her, dass Godards Filme regulär in die Kinos kamen und ein must see für ein breites Publikum waren. Godard hat auf die unfreiwillige Exklusivität reagiert. Bis zum 18. Mai kann man „Film Socialisme“ aus dem Netz herunterladen, via www.filmotv.fr. Es kostet sieben Euro.