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Archiv-Artikel

Die Unparteiischen (5): Günther Lorenz vom Technologie-Netzwerk Berlin Ist soziale Ökonomie etwas für Traumtänzer?

Am 17. September wird gewählt. Die wirklichen Fragen hat die Politik ausgeklammert. Die taz stellt sie – und lässt Unparteiische antworten.

Eine halbe Million Arbeitslose leben in Berlin. Ein Rekordstand, der bei Kollegen in London Bedauern hervorruft. Dort kennt man solche Zahlen aus den 80er-Jahren. Mit einem Unterschied: Damals wohnten 10 Millionen Menschen in London, in Berlin sind es heute 3,5 Millionen.

Seinerzeit hat die Londoner Stadtregierung – trotz des harten Gegenwinds durch die neoliberale Thatcher-Regierung – eine Wirtschaftsstrategie mit direkter Intervention in die lokale Ökonomie favorisiert. Beschäftigungsintensive Bereiche wurden gezielt gefördert. Dadurch wurden mehrere tausend Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Sektor geschaffen.

In Berlin hingegen glaubt der Wirtschaftssenat, Arbeitsplatzabbau verhindern zu können, indem er indirekt in den Arbeits- und Wirtschaftsmarkt interveniert. Ungeachtet der Tatsache, dass der private Sektor derzeit selbst im Aufschwung Arbeitsplätze abbaut, werden externe Investoren angezogen und gefördert. Aktive Arbeitsmarktpolitik vor Ort wird hingegen zurückgeschraubt, aktive Beschäftigungspolitik zur Schaffung zusätzlicher, sinnvoller Arbeitsplätze findet kaum statt.

Angesichts der hohen Arbeitslosenzahlen sind wirtschaftspolitische Alternativen dringend nötig. Dazu gehört die„Soziale Ökonomie“. Damit sind Stadtteilgenossenschaften, Integrationsfirmen, soziokulturelle Nachbarschaftseinrichtungen und andere soziale Unternehmen gemeint. Ihr Kennzeichen: Soziale Ziele, die es gemeinschaftlich und auf zivilgesellschaftlicher Basis zu erreichen gilt, haben Priorität vor der privaten Gewinnverwendung. In einer Studie für das Bundesministerium für Bildung und Forschung wurde festgestellt, dass derzeit in Deutschland etwa 2 Millionen Arbeitsplätze von sozialen Unternehmen bereitgestellt werden. Wie viele es in Berlin sind, ist bisher allerdings nicht erfasst.

Noch sind soziale und ökonomische Projekte größtenteils von öffentlichen Subventionen abhängig. In Berlin sollten endlich Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit sie zusätzlich eigene Einnahmen erwirtschaften können. Denn Ressourcen aus dem privaten und öffentlichen Sektor sowie das Engagement der Bürger können in sozialen Unternehmen zusammengeführt werden. Dafür benötigen die aus sozialem Engagement oder der Ehrenamtlichkeit heraus entwickelten sozialen Wirtschaftsbereiche eine ähnliche Planungssicherheit wie private Unternehmen. Anders als in europäischen Nachbarländern gibt es sie bisher nicht, obwohl der Senat 2004 dem Netzwerk der Städte und Regionen für die Soziale Ökonomie beigetreten ist.

Eine wirtschaftspolitische Strategie, in der durch direkte Intervention in die Soziale Ökonomie neue Angebote und Arbeitsplätze geschaffen werden, ist kosteneffektiv: Sie investiert direkt in Arbeitsplätze, die aus einem Bedarf heraus entstehen. Sie investiert in Bereiche, die überwiegend beschäftigungsintensiv sind. Sie vermeidet Mitnahmeeffekte, denn soziale Unternehmen arbeiten nicht überregional; von ihrer Struktur her sind sie transparent. Zudem wird die Entstehung neuer sozialer Kosten vermieden, da der Senat mit der Leistungsvergabe auch sozialökonomische Auflagen verknüpfen kann.

Unser Gemeinwesen profitiert von Investitionen in die sozialen Unternehmen. Letztendlich wird sich dieser gesellschaftliche Nettogewinn auch positiv auf die Staatskasse auswirken. Nicht zuletzt wird das Selbstbild der Stadt und ihrer Bewohner, die mit dem Stereotyp des Almosenempfängers behaftet sind, damit verbessert. Mit Traumtänzerei hat es nichts zu tun.

GÜNTHER LORENZ

Morgen: Ist die Berliner Politik gerecht? Es antwortet: Christine Labonté-Roset, Rektorin der Alice-Salomon-Fachhochschule