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Archiv-Artikel

Die Umsteiger am Mont Ventoux

Vielleicht ist es nicht unbedingt dieser Berg in der Provence, der Veränderungswillige lockt, sondern seine sonnenverwöhnte Umgebung. Manch einer, der seinem Leben eine Wende geben wollte, hat hier ein Paradies gefunden, um seine Träume zu verwirklichen

Bei einer Entdeckungsreise am Mont Ventoux stößt man auf außergewöhnliche Unterkünfte

VON KORNELIA STINN

Wer möchte nicht gern die Mimosenblüte genießen, während sich der Frühling bei uns schwertut? Und wer träumte nicht davon, das eingefahrene Leben zurückzulassen und zu neuen Ufern aufzubrechen? In der Provence erfüllte sich mancher diesen Wunsch. Rund um den Mont Ventoux etwa. Menschen verschiedener Berufssparten aus Frankreich, der Schweiz oder Deutschland haben verfallene Schlösser oder verlassene ruinöse Bauernhöfe zu ihren Refugien gemacht und bieten dort Unterkünfte für Gäste an. Aussteiger, das sagen sie alle, sind sie nicht.

Der Mont Ventoux ist so etwas wie das Matterhorn der Provence. Mit nur 1.912 Metern längst nicht so hoch und erst recht nicht so kantig. Aber frei stehend und darum majestätisch – für provencalische Verhältnisse jedenfalls. Und in jedem Falle sturmerprobt. Schließlich heißt ja „Mont Ventoux“ „windiger Berg“. Das wiederum bekommen die Teilnehmer der Tour de France jedes Jahr zu spüren. Legendär ist er allemal. Schrieb doch Francesco Petrarca, der als der erste Reiseschriftsteller überhaupt gelten darf, bereits im Jahre 1336 über seine Besteigung. „Den höchsten Berg dieser Gegend, den man nicht zu Unrecht Ventosus, den Windigen, nennt, habe ich am heutigen Tag bestiegen, allein vom Drang beseelt, diesen außerordentlich hohen Ort zu sehen.“ Und später dann: „Zuerst stand ich durch einen ungewohnten Hauch der Luft und durch einen ganz freien Rundblick bewegt, einem Betäubten gleich.“

Was uns heute als Beschreibung reichlich übertrieben anmutet, hat aber seinen Wesenskern an ganz anderer Stelle. Bedenkt man, dass selbst noch Jahrhunderte nach Petrarca Berge als Verkörperung des Mystischen galten, denen sich zu nähern man tunlichst vermied. Weit war man davon entfernt, Berge oder Landschaften einen Genusswert zuzugestehen. So kam der Mont Ventoux als einer der ersten Berge in den Vorzug, seines landschaftlichen Reizes wegen gepriesen zu werden. Früh wurden die Weichen also gestellt, dieser Region den touristischen Gütestempel aufzudrücken.

Weit überblickt man bei klarem Wetter vom Mont Ventoux aus die Provence bis hin zur Côte d’Azur. Eine Region, deren besonders klares Licht und deren Farbenpracht nicht nur Dichter und Maler anlockte. Die Schweizerin Ursula Giancane zum Beispiel fand auf der Suche nach ihrem ganz persönlichen Platz an der Sonne hierher. Die 64-Jährige stammt aus Zürich. Als gelernte Krankenschwester hatte sie mit vierzig eine Ausbildung zur Operationsschwester gemacht. Dann wollte sie den Krankenhausbetrieb gern hinter sich lassen. Ein kleiner Pensionsbetrieb, das wär’s, sagte sie sich. Und der sollte an der Sonne sein. Wo war sie nicht überall unterwegs gewesen! In Kanada, Nordafrika und der Bretagne. Von Bekannten hörte sie schließlich, dass in Le Barroux ein renovierungsbedürftiges Anwesen auf einen neuen Besitzer wartete. Hier musste sie nicht lange überlegen.

Einsam, sehr einsam liegt das lang gezogene Gebäude, umgeben von Wäldern und Aprikosenhainen. Vis-à-vis blitzt das Käppchen des Ventoux zwischen niedereren Bergrücken hindurch. Drei Kilometer entfernt wohnen die Nachbarn. Einer ist Weinbauer, ein anderer hat eine Ölmühle. Seit sechs Jahren lebt Ursula nun hier und bietet ihre hellen luftigen „chambres d’hotes“ – Gästezimmer – an. „Die dicken Wintermäntel, die kann man hier vergessen“, sagt sie und holt sie höchstens heraus, wenn sie in der kalten Jahreszeit mal nach Zürich muss.

Nur etwa fünfzehn Kilometer weiter trifft man auf die „Domaine Bournereau“. Zwei Deutsche haben sich hier ihren Lebenstraum verwirklicht: Hermann Mayer, der zuletzt elf Jahre lang Rektor einer Grundschule in Esslingen war, und Klaus Hug, der mit seinem Bruder zusammen in Waldshut-Tiengen den elterlichen Betrieb führte. Die beiden suchten jahrelang zwischen Lavendelfeldern und Mandelbäumen, Olivenhainen und Weingärten nach ihrem Paradies. Als sie auf die „Domaine Bournereau“ stießen, funkte es. Das versteht zunächst einmal gar nicht, wer den Feldweg bei Monteux im Vaucluse einbiegt und an dem langen Kasten vorbeifährt, der an eine Kaserne erinnert. Und dann noch das grün gestrichene Eisentor, das immer abgesperrt ist und sich nur bei Codenummerneingabe für Gäste öffnet. „Genau das“, sagt Hermann Mayer und lächelt sein immer sanftes Lächeln, „genau das ist für uns so etwas wie ein Tor, hinter dem das Paradies lauert. Wo unsere kleine Welt beginnt. Alles andere bleibt draußen.“

Wer nicht draußen bleibt, sind die inzwischen zahlreichen ihre Ruhe suchenden Hotelgäste und natürlich Klaus und Alice, die Hündin, die so gern auf der immergrünen riesigen Wiese unter der alten Platane tobt und ihr Spielzeug mal bei dem Mimosenstrauch und mal bei den Kamelien liegen lässt. Ja, drinnen, hinter dem Zaun, ist alles anders. Doch abseits von Stress kann doch auch das nicht sein? Aus einem ruinösen Bauwerk in einem Jahr eine Edelhütte für Gäste bauen und, ohne das gelernt zu haben, diese zu verwöhnen. „Freilich, das hatten wir so arbeitsintensiv nicht erwartet“, gesteht Klaus. Erzählt von dem Dschungel an Bürokratie, durch den sie sich wühlen mussten, als sie sich 2001 daran machten, die Pläne für den Umbau des „abandonné“ gelegenen – seit vierzig Jahren verlassenen, ausgesetzten – Bauernhofes zu machen, den sie erstanden hatten. Eine Seidenraupenzucht muss dereinst hier gewesen sein. Spuren unter dem Dach und Löcher in den Wänden, wo Schnüre für die Raupen aufgezogen gewesen sein müssen, verraten dies. Die Gegend war bekannt für Seidenraupenzucht.

„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, sagt Klaus. Leise, fast ein wenig schüchtern, sagt er das. Aber dieser Zauber blitzt allgegenwärtig in seinen Augen. Nein, Aussteiger sind sie nicht – nur Umsteiger. Die die Sonne der Provence in diese alten Mauern zurückgeholt haben und sparsam, aber wirkungsvoll Glanzlichter setzten. Mit duftigen Bildern, die Hermann malte. Und unaufdringlichem Design, das dem Licht schmeichelt. Auch von der Domaine Bournereau aus sieht man hinüber zum Mont Ventoux. In zwanzig Minuten ist man mit dem Auto dort.

Und selbst wer mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sein will, gelangt leicht zu einem Ausgangspunkt für eine Wanderung hinauf auf den legendären Berg. Die Bushaltestelle ist nur wenige Minuten entfernt von der Domaine. Stündliche Verbindungen gibt es nach Carpentras und von da aus weiter, zum Beispiel nach Malaucéne. Carpentras ist ein Ort im Schnittpunkt, der wegen seines großen bunten Marktes in der gesamten Provence bekannt ist. Doch Carpentras ist auch bekannt als Stadt der Päpste. Vom 13. bis 18 Jahrhundert war sie im Besitz der Päpste. Ebenso galt sie als Zufluchtstatt der Juden, die hier unter päpstlichen Schutz gestellt wurden. Und so findet man in Carpentras heute die älteste Synagoge Frankreichs mit aktivem Gemeindeleben. Auch von Carpentras aus genießt man einen wunderschönen Blick auf den Mont Ventoux. Und als sei es auch ein Knotenpunkt für Umsteiger, so erreicht man im Umkreis von wenigen Kilometern noch ein paar außergewöhnliche Bauwerke, deren Kauf für die neuen Besitzer den Einstieg in ein völlig neues Leben markierte. Sie allerdings mussten einen außergewöhnlichen finanziellen Hintergrund mitbringen, um alte Mauern in noble Gästeunterkünfte zu verwandeln.

Da wäre zunächst einmal das Chateau de Mazan, wo dereinst schon der Marquis de Sade seine Sommermonate zu verbringen beliebte. Im heutigen Zimmer Nummer 17, so heißt es, habe sich der Adlige mit den besonderen erotischen Vorlieben damals aufgehalten. Oder das Chateau de la Roque in La Roque sur Perne. Jean Tomasino und seine Frau aus Paris kauften die alten Schlossmauern, die aus dem Beginn des letzten Jahrtausends stammen. Im 13. Jahrhundert, so fand der neue Schlossbesitzer heraus, gehörte das ehrwürdige Gebäude dem Bischof von Carpentras. Als das Ehepaar damals das Schloss im winterlichen Zauber sah, war es um die beiden geschehen. Achthunderttausend Euro investierte Tomasino, der eigentlich nur „ein Haus in der Provence“ hatte kaufen wollen, in die maroden Mauern und die detailverliebte Inneneinrichtung. Nun träumt er von mittelalterlicher Schlossmusik im Garten und Theateraufführungen.

Bei einer Entdeckungsreise am Fuße des Mont Ventoux stößt man auf Unerwartetes, was das Angebot an außergewöhnlichen Unterkünften betrifft. Mancher, der seinem Leben eine Wende geben wollte, hat hier ein Paradies gefunden, um seine Träume zu verwirklichen. Ein Paradies im Schlaraffenland der Provence. Zu Füßen jenes Berges, von dem aus man weithin in die Provence Ausschau halten kann: dem Mont Ventoux.

Und es lohnt sich eben nicht nur, jenen zu erklimmen wie einst Petrarca. Recht genussvoll kann auch eine Umrundung sein. Zeigt diese doch nicht nur die Fülle der Schätze, die die sonnenverwöhnte Erde hervorbringt, sondern auch all das, was daraus Lukullisches werden kann. Man nehme etwa den Châteauneuf du Pape, der schon in den Kellern der Päpste gelagert haben mag, als diese noch Herren des Städtchens Carpentras waren. Oder St. Didier, das alte Örtlein, wo der Nougat von sich reden macht. Dreizehn Desserts entstanden nach Familienrezepten und begleiteten ein traditionelles Weihnachtsessen. Grundlage hierfür waren die Mandeln, die unterhalb des Ventoux gereift waren, und der Honig, den der Nektar aus den Lavendelblüten bescherte. Und so ist das noch immer. Die ganze Vielfalt des Schlaraffenlandes der Provence breitet sich auf den Märkten aus. Da sollte man es nicht versäumen, wenn des Samstags der Bürgermeister von Velleron persönlich zur Eröffnung des Bauernmarktes in die Trillerpfeife bläst. Zum Beispiel kann man besonders würzig duftenden Thymian oder Rosmarin im Töpfchen nach Hause mitnehmen oder Spargel, Artischocken, Trüffel sowie auch preisgekrönte Marmelade. Das alles gibt’s hier zu Schleuderpreisen im Sonnen-Wunderland der Provence. Ach, am besten, man bleibt gleich für immer hier wie Klaus und Hermann und Alice und die vielen anderen. Die Provence hat noch für viele Platz.

Infos: Maison de la France, Zeppellinallee 37, 60325 Frankfurt, Tel. (01 90) 57 00 25 (0,62 E pro Minute), www.franceguide.com