■ Die UNO läuft Gefahr, unter der Last der Befriedung ethno-nationaler Konflikte zusammenzubrechen: Kriege, die nicht ausbluten
Die Ausweitung ethnischer und religiöser Konflikte ist in der Ära nach dem Ost-West-Konflikt in verschiedenen Regionen der Welt zum Hauptproblem der internationalen Friedenssicherung geworden. Diese Konflikte drohen, obwohl jeder einzelne keine globalstrategische Bedeutung für sich in Anspruch nehmen kann, Millionen Menschen das Leben zu kosten (siehe das frühere Jugoslawien, Somalia, Sudan, Angola etc.). Hunger, Flüchtlingsströme, Ausweitung von Krankheiten, Epidemien sowie die Zerstörung der für die Zukunft dieser Länder so wichtigen Bildungs- und Gesundheitssysteme sind die Folge. Wirtschaftliches Potential, aufgebaut in mühsamer Arbeit von Generationen, wird zerstört, manchmal in wenigen Wochen oder Tagen.
Humanitäre Hilfe allein kann an diesem Zustand nur wenig ändern. Sie kann zwar Individuen und Gruppen aus konkreten Notlagen helfen, was wichtig genug ist. Sie ist in der Regel jedoch kein Mittel, das die Ausweitung von Gewalt verhindern kann. Die Entwicklungen in Bosnien ebenso wie die in Somalia, dem Sudan und an anderen Plätzen erteilen insoweit eine klare Lektion. Kritischer noch: Humanitäre Hilfe ist unter bestimmten Bedingungen in Gefahr dazu beizutragen, daß diese Kriege kein Ende finden. Denn sie landet häufig nicht bei den eigentlichen Adressaten, der notleidenden Zivilbevölkerung, sondern denjenigen, die die Waffen haben und an einer Fortführung des Krieges interessiert sind. Man muß einem Teil der humanitären Organisationen vorwerfen, daß sie die Öffentlichkeit über diese Tatsache im unklaren lassen.
Leider gibt es aufgrund der Erfahrungen der letzten Jahre eine weitere bittere Einsicht: Wirtschaftliche Sanktionen und andere nichtmilitärische Mittel haben sich bei der internationalen Friedenssicherung als ein zumindest kurz- und mittelfristig weit weniger effektives Instrument erwiesen, als vielfach angenommen wurde. Selbst wenn Sanktionen halbwegs energisch durchgeführt werden, was häufig nicht der Fall ist, wirken sie meist nur langfristig. So lange können Menschen, deren Leben unmittelbar bedroht ist oder die mit Vergewaltigung, Vertreibung und anderen Brutalitäten rechnen müssen, nicht warten. Rationale Kosten-Nutzen-Erwägungen, die die Konfliktparteien auch kurzfristig reagieren ließen, gehen in der emotional aufgeladenen Atmosphäre ethnischer und religiöser Konflikte unter. Warum sollten die Führer von Konfliktparteien (oder menschenverachtende Diktatoren), die – wie in Bosnien oder Somalia – bereit sind, für ihre Ziele notfalls ein ganzes Land und seine Bevölkerung mit in den Abgrund zu reißen, durch wirtschaftliche oder ähnliche Sanktionen besonders beeindruckbar sein? Deren Auswirkungen sind vergleichsweise harmlos.
Andererseits ist es natürlich unsinnig, den Einsatz von Militär für ein Allheilmittel zu halten. Zweifellos sind Wirtschaftssanktionen oder Waffenembargos wichtige flankierende Maßnahmen der Friedenssicherung, insbesondere wenn sie in der Frühphase von Konflikten, wenn noch kein Blut geflossen ist, energisch eingesetzt werden. Es ist falsch, militärische und nichtmilitärische Mittel gegeneinander ausspielen zu wollen, wie das in der deutschen Diskussion vielfach üblich ist. Keines dieser Mittel wird in Fällen wie in Somalia, Bosnien oder Angola allein Frieden schaffen können. Die verschiedenen Elemente der Friedenssicherung haben jeweils ihre Zeit, die nichtmilitärischen ebenso wie die militärischen. Die Kunst besteht darin, sie im Hinblick auf Sequenz und Aufgabenbereich optimal miteinander zu kombinieren.
Die Weltgemeinschaft, und mit ihr auch die deutsche Politik, steht also vor einer schwierigen Wahl. Entweder sie entschließt sich, das traditionelle Peacekeeping der UNO fortzuentwickeln, oder sie überläßt die Dinge ihrem Lauf, mit allen Konsequenzen, die das humanitär und politisch bedeutet. Denn die Hoffnung mancher „Realisten“, daß derartige Konflikte durch einen Mangel an Nachschub relativ schnell „ausbluten“ beziehungsweise „ausbrennen“, ist illusorisch. Ihre Ausweitung über die Grenzen hinweg ist angesichts der weltweiten Schwemme von Billigwaffen wahrscheinlicher. In verschiedenen Regionen wie auf dem Balkan, im Kaukasus und in Afrika besteht die Gefahr von Flächenbränden. Geld für die Fortsetzung der Gewalt findet sich immer, sei es durch den Handel mit Waffen, Drogen, Edelhölzern etc. oder sogar den Gütern der humanitären Hilfe aus dem Norden. Die Waffenschwemme ist übrigens maßgeblich eine Folge der Beendigung des Ost-West-Konflikts und der erfolgreichen Abrüstungspolitik in Europa. In verschiedenen Teilen Afrikas ist eine AK 47 heute für unter 30 Dollar zu haben.
Wir brauchen also eine weiterentwickelte Form von Blauhelmeinsätzen, die den spezifischen Anforderungen ethnischer und ähnlicher Konflikte gerecht werden. Von den traditionellen Einsätzen unterscheidet sich dieser Typus dadurch, daß er um militärische Elemente zur Durchsetzung bestimmter, klar umschriebener Aufgaben erweitert ist. Der Katalog der Aufgaben ist umfangreich. Die Entwaffnung und Demobilisierung von Bürgerkriegsparteien und Banden ist hier ebenso zu nennen wie die Absicherung von Flughäfen und Korridoren für humanitäre Transporte, Schutz des UNO- Personals und von Organisationen, die humanitäre Hilfe durchführen und sich um den Wiederaufbau des Landes bemühen, sowie Schutz der Zivilbevölkerung vor ethnischer Vertreibung und anderen Verbrechen.
Die UNO steht einer komplexen Anforderung von Wiederherstellung eines Mindestmaßes an öffentlicher Sicherheit und Ordnung, Ermöglichung und Durchführung humanitärer Hilfe sowie der Bewältigung von Aufgaben des Konfliktmanagements gegenüber. Ein umfassender Lernprozeß ist notwendig. Der in den letzten Tagen vollzogene Schwenk der amerikanischen Politik und der UNO in Somalia ist Ausdruck eines solchen Lernprozesses. Fehler wurden gemacht, nicht zuletzt deswegen, weil in Somalia einige der Militärs und UNO-Diplomaten zu einseitig in den Kategorien von Krieg und Frieden, Freund und Feind, militärisch und nichtmilitärisch denken. Bei diesem robusten Peacekeeping geht es eben nicht um Sieg und Vergeltung, sondern um die Aufrechterhaltung des Friedens- und Verhandlungsprozesses und der dafür notwendigen Voraussetzungen. Das muß, anders als bei der Kriegführung, mit einem Minimum an Verlusten nicht nur bei den eigenen Truppen, sondern auch den Konfliktparteien und deren Anhängern erfolgen. Sie sollen nicht vernichtet, sondern zur Einhaltung des Mandats zur Rückkehr an den Verhandlungstisch bewegt werden.
Die UNO ist in Gefahr, unter der Last der Befriedung ethno-nationaler und ähnlicher Konflikte zusammenzubrechen. Grund dafür ist nicht ein Versagen der Organisation als solcher, sondern die Halbherzigkeit, mit der die Mehrheit der Staaten zu den Aufgaben der Organisation steht.
Japan und Deutschland, obwohl zwei der wirtschaftlich, politisch und auch militärisch potentesten Staaten der Welt, gehören zu diesem Kreis der Halbherzigen. Denn das Argument, die Lehren der Vergangenheit würden eine Beteiligung mit Truppen ihrer Streitkräfte an militärischen Aufgaben der Friedenssicherung verbieten, hat seine Überzeugungskraft verloren. Für einige Zeit war es im Sinne einer gründlichen Prüfung und öffentlichen Diskussion dieser Frage aufgrund der historischen Belastung beider Länder in Sachen Militarismus berechtigt. Das Ergebnis der nun schon mehrjährigen Diskussion ist jedoch hinreichend deutlich. Die Beteiligung an dem Versuch, die UNO und regionale Abmachungen wie die KSZE zu tragenden Pfeilern einer regionalen und globalen kollektiven Sicherheit zu machen, stellt keine Fortsetzung desaströser Tendenzen der Vergangenheit dar, sondern bricht mit ihnen klarer als eine Politik des Beiseitestehens und Freikaufens mit Yen und D-Mark. Insbesondere der Faschismus verirrte sich in blindwütigen Alleingängen unter totaler Mißachtung internationaler Ordnungsstrukturen. Die Einbindung deutscher Friedens- und Sicherheitspolitik in die Abstimmungs- und Beschlußmechanismen der UNO und anderer multilateraler Einrichtungen ist die beste Absicherung gegen die Wiederholung derartiger Alleingänge.
Ohne ein tatkräftiges Mitanfassen Japans und Deutschlands wird die UNO der anrollenden Welle gewaltsamer Konflikte auf die Dauer nicht gewachsen sein (oder – wie Generalsekretär Boutros-Ghali bei seinem Besuch in Japan kürzlich gewarnt hat – zu einem einseitig von den USA dominierten Instrument degenerieren). Scheitert die UNO aber, dann steht, wie in Ansätzen bereits zu beobachten ist, eine Renationalisierung nationaler Interessen- und Sicherheitspolitik ins Haus. Eine solche Entwicklung kann die deutsche Friedens- und Sicherheitspolitik nicht wollen, ebensowenig wie die japanische. Denn das würde in der Tat die Lehren der Vergangenheit in den Wind schlagen. Winrich Kühne
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