■ Die Türkei wird erstmals von einem islamistischen Ministerpräsidenten regiert. Droht ein Fundamentalismus?: Erbakan – ein türkischer Kohl?
Gelassenheit ist angesagt, so suggerieren viele westliche Kommentare zur Wahl des Islamisten Necmettin Erbakan. In der Türkei richtete sich der Unmut vornehmlich gegen seine Koalitionspartnerin Tansu Çiller. Erbakans Regierungserklärung und vor allem seine Interviews mit westlichen Journalisten sind voller Loyalitätserklärungen zur Demokratie und zum (laizistischen, d.h. Staat und Religion trennenden) Kemalismus. So mancher Kommentator scheint sich mit der Vorstellung zu beruhigen, daß Erbakans Refah- Partei die Türkei so wenig islamischer machen werde, wie die sich schon in ihrem Namen „christlich“ nennende CDU/CSU Deutschland in jahrzehntelanger Herrschaft christlicher gemacht hat. Erbakan – ein türkischer Kohl?
An Propheten von Szenarien, wie es mit der Türkei unter Erbakan weitergehen wird, fehlt es nicht. Die Gegner sagen ein schnelles Ende der – durch Bestechung einiger Abgeordneter zustande gekommenen – Koalition zwischen dem frömmelnden Erbakan und der in unzählige Korruptionsskandale verwickelten Çiller voraus. Die Folge wären Neuwahlen, in denen die Refah wohl noch mehr Prozente bekommen und Çillers Partei des Rechten Weges nicht einmal mehr die Zehnprozenthürde überspringen würde. Vielleicht ist dies Erbakans Kalkül. Spätestens wenn die Refah- Partei zum Alleinherrscher aufstiege, würde aber gewiß die auf den Kemalismus eingeschworene Armee – in „guter“ türkischer Tradition – auf den Plan treten und dem Spuk ein Ende bereiten. Die Abwesenheit des von Frau Çiller gehätschelten ehemaligen Generalstabschefs Dogan Güres bei der Abstimmung im Parlament war eine deutliche Warnung der Armee an Erbakan, es mit der Islamisierung nicht zu weit zu treiben.
Die Islamisten selbst setzen natürlich darauf, daß das Experiment gelingt, dem von Özal eingeführten und von Çiller fortgeführten schrankenlosen Kapitalismus ein Ende zu machen, die Inflation zu stoppen, die Korruption auszurotten und der fortschreitenden Verarmung der unteren sozialen Schichten Einhalt zu gebieten. Mit diesen Versprechungen ist Erbakan im Wahlkampf angetreten. Daß er sie – so wünschenswert es wäre – erfüllen kann, ist mehr als zweifelhaft. Gelingt es ihm aber nicht, werden ihn auch seine eigenen Anhänger für das Scheitern verantwortlich machen und sich weiter radikalisieren. Und im Umfeld Erbakans gibt es jetzt schon genügend radikale Islamisten, die im wahrsten Sinne des Wortes Gewehr bei Fuß stehen.
Bereits seit Jahren sind in der Türke massive Reislamisierungstendenzen zu beobachten. Prinzipiell kann man dies, wie auch in der übrigen islamischen Welt, als Ausdruck des Unbehagens an der westlich geprägten Moderne und als Versuch interpretieren, dem wachsenden kulturellen Identitätsverlust durch die Rückbesinnung auf eigene, überkommene Werte und Normen gegenzusteuern. In Staaten, in denen Politik und Religion zumindest vom Grundsatz her getrennt sind, wie auch seit Atatürk offiziell in der Türkei, muß dies durchaus keine negativen Folgen haben. Im Gegenteil: Es kann das notwendige kulturelle Selbstwertgefühl wiederherstellen. Sollte Erbakan dieser Spagat gelingen, könnte dies nicht nur der Türkei, sondern darüber hinaus als Vorbild für andere Staaten des islamischen Raumes dienen.
Zunächst einmal wird der Sieg Erbakans jedoch in den arabischen Nachbarländern gerade den militanten Islamisten Auftrieb geben. Erbakan wird Beifall von jenen bekommen, deren Radikalität er persönlich wohl nicht teilen mag. Türken und Araber haben ein, historisch begründet, traditionell schlechtes Verhältnis zueinander. Die Türken schauen mit Verachtung auf die Araber hinab. Die Araber machen die jahrhundertelange osmanisch-türkische Vorherrschaft für ihren kulturellen Niedergang verantwortlich. In islamistischen arabischen Kreisen mehren sich jedoch Stimmen, die das osmanische Reich als letzten Ausdruck islamischer Größe bewundern und die Auflösung dieses Reiches und die gegenseitigen Animositäten als gezielte Strategie des Westens zur Schwächung der islamischen Welt anprangern.
Schon vor Erbakan gab es in der Türkei beängstigende, „islamisch“ motivierte Ausschreitungen gegen liberale Literaten. Es sei hier nur an das Blutbad von Sivas erinnert: Auf den Tag genau drei Jahre vor der Wahl Erbakans richteten Islamisten bei einem Literatenkongreß, der sich der Erinnerung an den islamischen Mystiker Pur Suitan Abdal widmete, ein Blutbad an, bei dem auch der international renommierte Schriftsteller Aziz Nesin beinahe den Tod gefunden hätte. Man wird Erbakans islamistische Regierung gerade an der Toleranz bzw. Intoleranz im kulturellen Bereich genauestens messen: Die Unterdrückung der Freiheit des Wortes ist stets das deutlichste und meist auch das erste Symptom für die Unterdrückung elementarer Menschenrechte. In Ägypten hatte Anwar al- Sadat den zuvor von Nasser unterdrückten Muslimbrüdern wieder gestattet, vor allem an den Universitäten neue Aktivitäten zu entfalten, um ein Gegengewicht zu den linken Strömungen zu schaffen. Sadat hatte sich, anders als Erbakan, stets für eine strikte Trennung von Staat und Religion eingesetzt. Bekanntlich wurde Sadat von eben den Geistern, die er gerufen hatte, umgebracht: Heute werden liberale Autoren, wie etwa der Nobelpreisträger Nagib Mahfuß, nicht nur von militanten Islamisten mit dem Tode bedroht, sondern auch – wie das Beispiel Abu Zaids zeigt – von einer islamistisch unterwanderten Rechtssprechung ins Exil getrieben.
Und hier liegt die Gefahr des Sieges Erbakans. Er selbst mag ein ehrlicher, gläubiger Mensch mit den besten Absichten sein. Doch je länger er die türkische Regierung führen wird, desto stärker werden auch die militanten Islamisten in seiner Anhängerschaft in die staatlichen Institutionen drängen und zunehmend deren Handeln bestimmen. Erbakan ist kein türkischer Kohl. Er will die Türkei islamischer werden lassen. Ob es ihm gelingt zu verhindern, daß ihm auf diesem Wege die extremistischen Kräfte über den Kopf wachsen, ist mehr als fraglich. Gernot Rotter
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen