: Die Toten sind gegenwärtig
ERINNERUNG In Joachim Meyerhoffs „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ ist die Vergangenheit ein riskantes Unternehmen
Der erste Teil – „Amerika“ – des Zyklus „Alle Toten fliegen hoch“ von Joachim Meyerhoff war großartig. Der zweite Teil, „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“, ist es nicht minder. Ging es in „Amerika“ um das Jahr, das der Autor und Ich-Erzähler als Austauschschüler verbrachte, erzählt „Wann wird es endlich wieder so …“ von der Kindheit und Jugend, die er als Sohn des Direktors des Landeskrankenhauses für Kinder- und Jugendpsychiatrie in den 70er Jahren in Schleswig verlebte.
Ich las das Buch parallel mit einer Freundin. Während wir lasen, schrieben wir uns Mails. A., die Buchhändlerin, schrieb: „das neue Buch ist wieder sehr sehr gut, besser noch als das erste. Bei meinen Kolleginnen und mir hier ist es DAS Gesprächsthema.“ – „Ich finde es auch toll. Das Zigarettenrauchen gefällt mir sehr gut, die Weihnachtsfeier, Frau Fick, die Putzfrau und das Zählen beim Fummeln …“ – „Und Dr. Gerhard Stoltenberg? Und die Blutsbrüderschaft? Marzipankartoffeln? 40. Geburtstag?? Fernsehgucken? Segelschein? Silvester? Sommerfest? Aber da bist du anscheinend noch nicht.“ – „Doch, doch; und den antidepressiven Merkzettel kenn ich von meiner Mutter; das stille, langsame Mädchen ist toll; das Orange-Rot-Motiv. Der Tod des Hundes, der Tod des Vaters. Ich hab’s jetzt durch und geh erst mal spazieren.“
Leiche auf dem Schulweg
Das Buch beginnt mit einem toten Rentner, den der Siebenjährige auf seinem Schulweg in einer Schrebergartensiedlung findet. Nicht erschrocken, sondern begeistert erzählt er in der Schule von seinem Fund. Zunächst glaubt man ihm nicht. Später doch. Immer wieder wird er von seinen Mitschülern darum gebeten, die Geschichte zu erzählen, und beginnt irgendwann, sie auszuschmücken. Als er sich einen wertvollen Ring ausdenkt, den der Tote an seiner linken Hand hätte, erinnert er sich an den goldenen Ehering, den der Tote tatsächlich getragen hatte. „Wie ein archäologisches Instrument hatte die Lüge ein eingeschlossenes Detail herausgekratzt und den Tiefen des Gedächtnisses wieder entrissen. Für mich war das eine unfassbar befreiendes Erkenntnis: Erfinden heißt Erinnern.“
Was bei Proust die Madeleine war, ist bei Meyerhoff ein toter Rentner, dem andere Tote folgen: eine Amsel, ein stilles Mädchen, eine Katze, der Hund der Kindheit, der Bruder, der Vater. Meyerhoff macht keinen prinzipiellen Unterschied zwischen toten Menschen und toten Tieren. Meist geht es aber sehr lebendig, traurig und glücklich: um die Patienten auf dem Psychiatriegelände, um das Familienleben, um den turbulenten Besuch des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten in der Psychiatrie, um plötzliche Wutanfälle, in die der Held immer wieder fällt.
„Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ klingt auf den ersten Blick vielleicht komisch, beschreibt aber präzise ein Unternehmen, in dem die Vergangenheit ein „viel ungesicherterer, weniger verbürgter Ort“ ist als die Zukunft, ein Ort, der durchdrungen und gestaltet werden muss, damit überhaupt so etwas wie eine „offene Zukunft“ entstehen kann. Es geht dem Schriftsteller, Schauspieler und Vortragskünstler darum, „die scheinbare Verläßlichkeit der Vergangenheit aufzugeben“, „die Erinnerungspäckchen wieder aufzuschnüren“, das Vergangene zu gestalten und zu feiern, die Toten als Andere wieder lebendig werden zu lassen.
Die Poetologie, die Meyerhoff am Ende des Buchs formuliert, leuchtet unmittelbar ein. Das Vergangene ist nicht vergangen, die Toten sind nicht für sich, getrennt von uns, sie sind der Stoff, aus dem das Ich besteht, aus dem das Ich sich formt. Die Toten sind gegenwärtig. DETLEF KUHLBRODT
■ Joachim Meyerhoff: „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013, 352 S., 19,99 Euro