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Die Tasten geschrappt

Zum 90. Geburtstag: die Klavierwerke von Helmut Lachenmann

Von Tim Caspar Boehme

Er ist einer der letzten Verbliebenen aus der Generation der heroischen Nachkriegsmoderne. Helmut Lachenmann gehört zu den großen Komponisten des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. Was für eine Spanne er bisher zurückgelegt hat, zeigt unter anderem eine jetzt erscheinende Aufnahme seiner sämtlichen Klavierwerke, eingespielt vom schwedischen Pianisten Jonas Olsson. Das früheste Stück darauf stammt aus dem Jahr 1956, das jüngste entstand sechs Jahrzehnte später von 2016 bis 2017.

Helmut Lachenmann, der am 27. November 90 Jahre alt wird, gilt als Begründer der „musique concrète instrumentale“. Was als Wortschöpfung durchaus etwas Witziges hat. War die „musique concrète“, 1949 vom französischen Komponisten Pierre Schaeffer entwickelt, doch eine Form elektronischer Musik, die mit Aufnahmen von Umweltgeräuschen aller Art arbeitete, um aus diesem „konkreten“ Material durch Verfremdung musikalische Strukturen zu schaffen.

Lachenmanns Ansatz führt über einen indirekteren Weg. Denn er begann sich früh dafür zu interessieren, wie man mit herkömmlichen Instrumenten durch unorthodoxen Gebrauch zunächst einmal Geräusche erzeugen konnte, Kratzen, Quietschen, Knarren, Klopfen, Ratschen und derlei mehr, um dann diese „konkreten“ Signale in musikalische Formen zu bringen.

Sein Klavierstück „Guero“ von 1969 verdeutlicht das. Statt die Tasten herunterzudrücken, um dem Instrument so Töne zu entlocken, schrappen die Fingernägel darüber und erzeugen einen ähnlichen Effekt wie beim Perkussionsinstrument Guiro, dem etwa in der kubanischen Musik sehr verbreiteten „Flaschenkürbis“.

Die Erweiterungen der instrumentalen Möglichkeiten dachte Lachenmann mitunter auch klar inklusiv, wie in seinem Zyklus „Ein Kinderspiel“ (1980), dessen Stücke von Kindern ohne virtuose Fähigkeiten bewältigt werden können. Lachenmann blieb selten bei etwas stehen, sondern erprobte stets neue Mittel. Er ist auf „Öffnung“ mehr denn auf das Bedienen von Vertrautem aus, weshalb er sich vor Kurzem dagegen aussprach, dass die Unterteilung in E- und U-Musik bei der Gema abgeschafft wird.

Das hat weniger mit Spaßverderberei zu tun als mit der Sorge, dass Musik eines Tages auf reines Hintergrundrauschen reduziert werden könnte. Die zuhauf neu entstehende KI-Musik scheint ihm recht zu geben. Auf seine Klavier-Innovationen wäre ein generatives Softwareprogramm jedenfalls kaum von selbst gekommen.

Jonas Olsson: „Helmut Lachenmann Complete Piano Works“ (Thanatosis/H‘Art)

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