: Die Tage
Bei Feridun Zaimoglu sucht sich ein Künstler seinen Pfad durch eine Zeit sich auflösender Gewissheiten. Zuverlässigkeit gibt es keine, aber noch Allianzen, Gemeinschaften und gemeinsames Getriebensein
Langpoem Die Tage, an denen ich Kunst machte, sind vergangen.
Es kostete mich Überwindung, in die ungewaschenen Zottelfellfäustlinge zu schlüpfen und sie zu verdrecken, während das Publikum, das aus jungen Frauen und jungen Männern mit rosigen Gesichtern bestand, meine gespielte Gestörtheit beklatschte. Wir hörten nicht das Flügelflattern der Vogeljungen im Nest, wir waren dazu außerstande. Ein anderes Mal malte ich vor einem johlenden Haufen eine glänzende Nase, es entstand auch das Porträt eines Fußes mit perlmuttweiß lackierten Zehennägeln, an jenem Tag war ich zerstreut, ich vergaß die Stöpsel herauszunehmen, die ich mir nachts vor dem Einschlafen in die Ohren steckte, ein Stöpsel fiel, als ich in einer heftigen Bewegung den Pinsel führte, auf die Palette.
Ich malte sprießende Wimpern, die sich wie ein Vorhang über das Gesicht legten. Die öffentliche Malerei brachte nichts ein. Ein Bekannter sagte, er wolle Watte schlucken, um nicht mehr nachts mit einem Schrei zu erwachen. Er sagte: Mir ist egal, wenn die Feinde durch die Straßen der Stadt ziehen, ich will meinen Sozialismus ausleben, und das heißt, dass ich nicht Feinde totschieße. Er fuhr wie ich gerne Bus, am besten im Stehen an Halteschlaufen hängend, er klebte wie ich Zeitungsausschnitte in ein Heft, wir sammelten Material, wir liebten die Propaganda der Unerbittlichkeit.
Wir liebten gar nichts. Wir halfen einem Freund beim Aufräumen, wir benutzten reißfeste Schwerlasttüten, in eine Tüte stopften wir leere Pfandflaschen, in eine Tüte Pappe und Papier, in eine andere Plastik, die vierte Tüte lag wie ein kleiner Mensch, dem man den Hals umgedreht hatte, auf dem Boden. Der Sozialist schob die Hand in die Sofaritzen und zog Folien und leere transparente Beutel, Umreifungsbänder, kleine Muschelschalen aus Plastik heraus. Ich gelangte, obwohl ich schwitzte, dabei zu keinem kritischen Bewusstsein. Ich benutzte beim Malen keine Filzstifte. Wir nannten uns Ulf, Ingo, Konrad. Ich benutzte beim Malen keine Luftdüsen mit verstellbaren Lamellen. An den Tagen, an denen ich Kunst machte, träumte ich nicht mehr und nicht weniger als sonst. In einem Traum wurde der Name Hidalgo laut gerufen, aber der Mann, der Hidalgo hieß, kam nicht, er war nicht aufzufinden, doch die Menschen riefen den Namen laut und lauter. Nach dem Aufwachen schaute ich im Wörterbuch nach, der Name bedeutete: Sohn von jemand. Den Namen Konrad legte ich ab, den Namen Sohn von jemand nahm ich an. Wir nannten uns Ulf, Ingo, Sohn von jemand. Ein Galerist sagte: Die Chinesen lieben den Maler, der verweste Gesichter malt. Ich verrührte Sand mit Tapetenkleister und verstrich mit dem Finger den schmierigen Sand auf der Leinwand, um ihn mit feinem Schmirgelpapier aufzurauen. Ich malte schäbige Geschöpfe und Fehlmenschen auf grünspanfarbigem Grund. Ich ließ sie wie technisches Personal ärmellose Kittel tragen. Sie standen konzentriert an Bügelbrettern.
Ulf änderte seinen Namen, er hieß: Insekt Deutschlands. Ingo wollte Beißt heißen. Insekt Deutschlands beißt Sohn von jemand. Vor jedem Auftritt aßen wir eine Handvoll Haselnüsse. Wir nannten uns Insekten Deutschlands. Wir hängten Mumienschlafsäcke, an den Schultern breit, an den Füßen schmal, an die Wände, die Menschen im Publikum erkannten sich in dem Bild nicht wieder.
Sie wollten auf breitester Grundlage arbeiten, wir boten ihnen Hafertaler an, die sie schnell verschlangen, das war nicht meine Geschichte, die Insekten Deutschlands starben in der Nacht. Der Galerist sagte: Ihr werdet euch von diesem Schlag nicht erholen. Wir wurden zu Schaukelpferden auf Stahlfedern. Mir misslang die Zeichnung einer Nase. An einem Tag sah ich im Supermarkt eine junge Frau ihren Einkauf auf das Förderband legen: Katzenmilch, Sojamilch, Salamipeitschen, zwei Dosen Jim Beam Cola. Ich träumte viele Tage von ähnlichen Zusammenstellungen. Ich sah Ulf nicht wieder. Ingo malte sich als Kind in der Turnstunde, im weißen Unterhemd und in blauen kurzen Hosen, er wurde seltsam, er zwickte die Käufer seiner Bilder in den Nabel, ich wollte wieder Hidalgo heißen, doch er hielt sich nicht daran, er sagte: Es ändern sich eben die Verhältnisse. Welche Verhältnisse?
Wir waren eingeklemmt, statt Nasen hatten wir Rüssel, die uns zwischen den Augen sprossen, wir legten sie uns beim Gehen um den Hals. Eines nachts, im Schatten von Hibiskussträuchern in der Hauptblütezeit, aßen Ulf, Ingo und ich getrocknete Apfelschiffchen, wir teilten die sechzehn Schiffchen auf, ich bekam vier Schiffchen, ich sah Ulf wieder, zur Belohnung bekam er sieben Schiffchen, Ingo, den der Galerist für den allerbesten Künstler der Stadt hielt, aß sehr laut schnaufend fünf Apfelschiffchen, in diesem Moment starb für uns die Kultur, es war keine friedliche Nacht, wir hörten Kellertüren zuschlagen, wir sahen verspätete Mücken im flackernden Licht der Neonröhren, was ein Desaster, unsere gurgelnden Organe konnten es nicht übertönen, und da sagte jemand in der Nähe, in die Stille zwischen zwei zuschlagenden Kellertüren, er sagte, leise wimmernd, nein, falsch, er sagte leise keuchend: Euch muss man tüchtig verklopfen, dass euch das saure Blut aus den Falten quillt!
Es war eine Qual, zu kauen und den Mann überhören zu wollen, seine Worte überhören zu wollen, wir kauten eine lange Weile, wir zerkauten die Apfelschiffchen zu einem Brei, der zwischen unseren Backentaschen schwappte, die Kunst starb für uns nicht, wir waren sehnige Skulpturen im Schatten von Hibiskussträuchern, es würde weitere Desaster geben, hier, dort, weiter weg, später, im nächsten Jahr, in späteren Jahren. Wer versteckte sich und keuchte? Wir wickelten unsere Rüssel um den mageren Hals, wir verschwanden. Ich war Hidalgo, ich war ein Insekt Deutschlands. Wir spähten: kein Feind im weiten Umkreis. Nur sirrende durchhängende Luftkabel, oben gab es nichts zu tun, unten gingen wir aus dem Leim, Insekt Deutschlands beißt Sohn von jemand.
Wer keinen Bauch hatte, galt als vergeudetes Leben, ich war mager, ich ging mir einen Weihnachtsstollen kaufen, den es fast das ganze Jahr im Discountladen gab, auf dem Vorplatz wurde ich in die Menge gezogen und halbherzig getreten, es waren Pillenfresser, die mich für ihren hundsgemeinen Dealer gehalten hatten, sie halfen mir auf, sie klopften mir den Staub von Hemd und Hose, ich hatte Nasenbluten, ich wischte mir das Blut mit dem Handrücken quer übers Gesicht, ein Hoch auf die Desaster, sie boten mir kleine schmerzrote Pillen mit einer Kerbe in der Mitte an, lieber nicht, lieber nicht, der Mond war noch nicht aufgegangen, das war ein schlechtes Zeichen, ich achtete auf Mondaufgänge, ich achtete nicht auf den Rausch der Männer und Frauen, die sich immer wieder immer wieder immer wieder am Hals kratzten und an ihren Fingerspitzen rochen, die Zeichen, die Zeichen, es war ein Zeichen, dass ich nicht unversehrt den Discounter betreten durfte, ich kaufte fertig geschnittenen Pumpernickel in der Tüte und Nuss Nougat Creme, die Frau an der Kasse nahm sich die Zeit, mit Feuchttüchern mein Gesicht zu säubern, sie stach mir dabei versehentlich fast ein Auge aus, ich floh, ich floh hinter die Büsche, schmierte mit dem Finger einen dicken Belag auf die fast schwarzen Scheiben, ich aß sie schnell auf. Ich raste beim Essen.
Die fast unzerkauten Bissen lagen mir im Magen wie kleine Steine. War die Kassiererin krank? Sie hatte gesagt: Ich möchte dir dein Blut über deine geschlossenen Augen streichen. Sie hatte gesagt: Das ist aus einem amerikanischen Gedicht. Amerikanische Gedichte gingen mir auf die Nerven. Ich rannte, ich raste, ich aß im Gehen, ich biss mir beim Essen in die Unterlippe, auf dem Heimweg geschah nichts, nur der Mond ging auf, der Mond, der Mond. Ich schloss mich in meinem Zimmer ein. Die Kissen, die auf der Sofarückenlehne lagen, sanken vorüber, sie machten ein Geräusch, als würden sie sich räuspern, bevor sie herunterfielen. Die räuspernden Kissen machten mich, Hidalgo, verrückt und einsam, mir fielen vier Wörter ein, die ich mit einem gelben Filzstift auf ein Zeichenblatt schrieb: Bitte höflich ziehen und fixieren.
Ich riss das Fenster auf und schrie: Wie könnt ihr Osterlämmer schlachten und essen, wenn doch der Heiland das Lamm Gottes ist?! Die Tiere, die ihr opfert, fressen euch im Grab! Die Nachbarin vom dritten Stock schrie: Reißen Sie sich zusammen! Ich legte mich schlafen und träumte von aufwärts rollenden Doppelkegeln, bis mich die Afghanen des Wohnheims, in dem ich lebte, weckten. Der marxistische Spartakusbund hatte den sowjetischen Handelsattaché zu einem Vortrag in der Pädagogischen Hochschule eingeladen. Die Afghanen waren meine Leute, sie waren wie ich Matsch mit Mörderaugen, ich ging mit, ich setzte mich mit ihnen in die vorletzte Reihe des kleinen Hörsaals, der Attaché sprach: Wir eilten den Genossen zu Hilfe, die die Reaktion bedrängte. Die Selbstmorde sind rückläufig! Die Verzweiflung verschwindet im hellen Licht der Revolution! Es kann nicht alles beim Alten bleiben! … An dieser Stelle fingen wir an, mit Schöpflöffeln gegen die kleinen Eisenkessel und die Schnellkochtöpfe mit rundem Boden zu schlagen, mit denen uns der afghanische Koch Aftab ausgestattet hatte.
Man konnte die Kessel und Töpfe auch im Nahkampf benutzen. Die Antikommunisten sangen fröhliche Lieder. Ich war kein Kämpfer, ich war ein verwesender Aktionist. Ich schwang den Löffel, ich leckte den letzten Rest Essen vom Boden des Kessels, bis Kashif, Aftabs bester Freund, mir in den Arm fiel. Vorne am Pult gab es ein Handgemenge, die Kessel und Töpfe flogen durch die Luft, die Afghanen Lemar, Kayan, Emal zerrten mich hinaus, wir liefen im geduckten Galopp an völlig entlaubten Linden vorbei, bis wir auf die Afghaninnen Tirza, Zoya, Tamana, Moska, Nilufar, Maleka und Jirina stießen.
Sie waren die Nachhut, sie hatten sich versammelt, um zu tanzen, dabei schwangen sie ihre übergroßen Leibchen und Röcke, als wollten sie sich in den Schlaf wiegen, und tatsächlich summten sie durch die Nase ein Lied, das wie ein Wiegenlied klang, ich wollte sofort afghanische Nasen malen, ich war Sohn von jemand, den die Insekten bissen, und da aber sagte Kashif: Der Staat ist abgefault, Arme und Beine sind abgefallen, Mund und Zähne, die Ohren, und natürlich die Augen sind vom Gesicht abgefallen, da sind nur noch der nutzlose Kopf und der tumbe Rumpf …
Von welchem Staat sprach er? Ich sprach von den räuspernden Kissen, bis Moska und Maleka mit dem Schwingen aufhörten, sie zeigten auf das Geflimmer zwischen den kahlen Lindenästen, ich kniff ein Auge zu, um zu verstehen, was ich sah, doch ich verstand nichts, gar nichts, es war der Mond, der sich hinter den Ästen versteckte, es war nicht die gloriose völkerverbindende Lehre, als die der Handelsattaché den Sowjetsozialismus genannt hatte, wir, die Insekten Deutschlands, schraubten manchmal die Kappe auf und rochen an der Öffnung der breitschultrigen Plastikflasche, wir schnüffelten an Putzmitteln, wir atmeten tief ein, sah ich mit einem offenen und einem zugekniffenen Auge ein Zeichen oder nur den Lichtschein glühender buckliger Kriebelmücken?
Wir setzten uns auf die nassen Parkbänke, die Afghanen verteilten Zahnstocher, die Passanten sollten uns, die wir zwischen den Zähnen stocherten, für geistig ausgebrannte, aber wohlhabende Menschen halten, die sich Fleisch leisten konnten. Dann schlangen wir, noch zahnstochernd, das lange Haar um den Hals, wir wurden für Sekunden ohnmächtig, bis uns das Scharren von Schuhsohlen über kieseligen Boden weckte, unsere Erloschenheit wurde zur Legende, doch die Legenden waren mir weniger wert als ein Brunztopf, ich war und blieb auf einer höchst unbewunderungswerten Weise aktionistisch. Ich nahm Abschied von den Afghanen, die Afghaninnen tanzten in einiger Ferne.
Da rannte Nilufar herbei und sagte: Ich erzähle dir eine Geschichte: Der König lässt die streitsüchtige Frau kommen, er sagt: Ich erfülle dir jeden Wunsch. Doch deiner Nachbarin, die du in Zukunft in Ruhe lassen wirst, werde ich das Doppelte von dem geben, was du dir wünschst. Sie sagt: Stich mir ein Auge aus, Herr … Ich bedankte mich mit einer Verbeugung, ich verbeugte mich so tief, dass ich der Afghanin aus Versehen beide Knie küsste. Ich lief durch die Stadt, ich stellte mich an die Autobahnausfahrt, vierzehneinhalb Stunden später war ich in Berlin. Ich traf irgendwo an einer Kreuzung einen Bekannten, er sagte: Ich habe geträumt, dass du mich um 350 Dollar betrogen hast. Der Traum hat mich gequält, bis ich endlich heute Morgen aufgewacht bin. Ich sagte: Wieso Dollar und nicht Mark?
Er nahm mich mit, in seiner engen Wohnung waren schreibende Menschen, die dabei gelegentlich fremde Worte laut aussprachen, sie übten eine Fremdsprache, was war hier los, der Bekannte träufelte Valiumtropfen auf den Würfelzucker, ich steckte ihn mir in die Backentasche, ich lag mit auf dem Bauch gefalteten Händen auf dem Futon und schaute fern, der Bekannte sagte: Giraffen können nicht husten, ich sah im Fernsehen keine Giraffen, dann sah ich doch eine Giraffe, die die Ohren kreisen ließ, um die Fliegen zu verscheuchen, dann sah ich einen Bettler, der um Makkaroni bettelte, dann dachte ich: Es ist gut, an einem Regentag zu liegen, obwohl man weiß, dass es kein Regentag ist, dann sah ich mich liegend um und sah Schrott und Mist, der Sperrmüll in Berlin stand nicht vor den Häusern, sondern in den Häusern, meine unreinen Gefühle beschämten mich, ich empfand valiumgetränkte, mädchenhafte Scham, ich dachte: Du bist für die Endverwendung nicht geeignet, ich dachte: Der Bekannte ist ein Mann mit fotosensitiver Empfindlichkeit, flackernde Lichter führen bei ihm zu einer großen Missempfindung im Kopf, dann sah ich nichts, dann dachte ich nichts, ich hörte die Menschen in der Wohnung fremde Worte sprechen, wobei sie die zweite Silbe unverhältnismäßig lange dehnten. Dann schlief ich ein.
Der Bekannte rüttelte mich wach, ich lehnte den Zuckerwürfel ab, er nahm mich mit zu einer Frau, die Wunder vollbracht hatte, welche Wunder, das war egal, ich lief ihm hinterher, nach einer Stunde kamen wir irgendwo an, im vierten Stock einer sanierten Arbeiterbaracke lebte die Meisterin mit ihren Jüngern. Als der Bekannte vor die Frau trat, um ihren Segen zu erbitten, fielen ihm die Knöpfe vom Hemd, vielleicht hatte der Bekannte auch nur sein Hemd am Leib zerfetzt, Samt an den Wänden, Samt auf den Polstern, es roch nach Chemie und verbrannten Kräutern, und da machte eine Jüngerin einen Handstand, aus ihrem Schoß spritzte ein gelber Strahl, die Knöpfe des Gewands der Meisterin wurden nass, die abgesprungenen Knöpfe vom zerfetzten Hemd des Bekannten wurden nass, waren das Wunder, ein fahlblöder Junge rieb an einem farblosen Mondstein, der an einer Kette an seinem Hals hing, was war das, das war ein Tachyonenempfänger, Tachyonen waren überschnelle Teilchen, die ihre optische Abbildung überholten, er hatte 900 Mark dafür bezahlt, natürlich der Meisterin, die auch jeden nassen Knopf an ihrem Gewand verkaufen würde, doch ihm fehlte das Geld, er war eben ihrer Fürbitte nicht würdig.
Er umarmte mich, seine Schultern rochen nach Eichhörnchen, der Mondstein stach mir gegen das Brustbein. Der Bekannte und der Jünger wollten mich der Meisterin als ein neuer Jünger zuführen, ich lehnte ab. Sie knetete an einer kleinen Frischhaltetüte unter dem Tisch, das andauernde Knistern machte mich wahnsinnig. Sie pickte mit feuchter Fingerspitze die Krümel von Tisch und leckte sie gierig ab. Zwei Jüngerinnen bewegten sich im Handstand vorwärts und rückwärts, es war eher ein Bananenhandstand, und obwohl sie viele Liter Wasser getrunken hatten, spritzte kein Strahl aus ihrer Mitte. Ich lehnte den Zuckerwürfel ab. Ich hatte Missempfindungen im Kopf und in den Zehen. Waren mir die Hoffnungen zerschlagen? Schön wäre es, wenn ich diese harten Tage überlebte.
Ich wurde mit dunklen Tupfen gesprenkelt, es waren die Schatten der Tachyonenempfänger, ich lief hinaus, ich heftete meinen Blick auf die Straße, wieso sollte ich in Berlin zum Himmel aufschauen, wenn ich es in meiner Stadt nicht tat? Ich wollte wieder Nasen malen. Irgendwo, in einem Lokal, aß ich Pflücksalat, man hatte die Blattrosetten geviertelt und mit Krumen Schafskäse bestreut. Eine Frau setzte sich an meinen Tisch, weil alle anderen Tische besetzt oder reserviert waren, sie bestellte auch Pflücksalat, sie sprach, auch als der zerkaute Bissen ihr hinten am Gaumen steckte, sie musste nur kräftig schlucken, sie tat es nicht, sie redete mit einer Rachenstimme, stellvertretend für sie verschluckte ich mich. Sie kam aus Rumänien, in dem ihre Winzigkeit keine Rolle spielte. Sie war vielleicht 1,53 Meter groß. Sie überragte mich im Sitzen.
Ich sagte, dass ich lügnerische Hunde malte. Dass ich sie als tief herabhängende hochmoderne Deckenleuchten malte. Dass ich sie als illuminierte Nullen malte. Dass ich sie als Abschabsel malte, als Fell ohne Fell. Als Wand ohne Wand. Sie drückte mir den Salatteller gegen die Kehle, ich verstummte. Ich bekam augenblicklich eine Nervenentzündung im Nacken. Der Kraftverlust war beträchtlich. Meine Zunge roch, die Worte rochen, es sauste über unseren Köpfen, hörte sie es nicht. Ich verließ das Lokal.
Draußen eine erbitterte Landschaft ohne Landschaft. Kleine Türkenmädchen mit weißen Bindfäden in den Ohren gingen vorbei, sie hatten sich Ohrlöcher stechen lassen, ich wurde beim Anblick der flatternden Bindfäden für vierzehneinhalb Sekunden glücklich, ich rief von der Telefonzelle den Freund an, der mir Grüße vom Gerichtsvollzieher bestellte, er hatte an meine Tür geklopft, mich nicht vorgefunden und den Vermerk ‚Amtsbekannt keine pfändbare Habe vorhanden‘ eingetragen. Ich nahm mir vor, dem guten Menschen doppelt geröstete, gepuderte Geleestücke zu schenken. Ich war Hidalgo, ich las meinen Namen rückwärts: Ogladih, es klang nach nichts. Plötzlich tauchte der Bekannte auf, er nahm mich mit zu einer Dichterlesung. Der Dichter griff in eine Schale, nahm einen Bonbon und warf ihn hart gegen den Kopf eines Mannes.
Er wurde verwarnt. Er zielte und traf das Gesicht eines anderen Mannes. Er wurde verwarnt. Es nutzte nichts. Sein Buch lag unaufgeschlagen vor ihm auf dem Tisch. Nach dem siebten Wurf fiel ihm der Leiter des Stadtverschönerungsvereins, nein, der Leiter der Kulturwerkstatt, in den Arm. Sie rangelten miteinander. Als der Dichter ihm das Gesicht ableckte, ließ der Mann von ihm ab. Ich stellte mich neben ihn, wir ließen uns Wange an Wange fotografieren, dann rannte ich hinaus, alle Menschen auf der Straße heulten plötzlich auf, die Katzen hielten inne, ich liebte den Ernst von Katzen, die bei Gefahr erstarrten und sich trotz langen Zuredens nicht aus der Erstarrung lösten. Ich folgte den Katzen irgendwohin.
Die Kioskbetreiber schlugen mit Teppichklopfern auf die Fußmatten, es sollte Glück bringen. Ich verlor die Katzen aus den Augen, ich aß mit Männern, die noch magerer waren als ich, Brot und Zwiebeln. Wir schlangen uns die Haare um den Hals. Sie zeigten in die Ferne, sie sagten, dort an der blauen Mülltonne sei der Katzenplatz.
Wir wunderten uns: Wir konnten nicht Englisch und nicht Arabisch, wie kamen wir in der Welt zurecht. Trotzdem stand ich auf, die Zwiebelschalen fielen mir vom Schoß, ich lief und lief, ich stellte mich an die Autobahnausfahrt, und nach vierzehndreiviertel Stunden war ich zurück in meiner Stadt. Die Insekten Deutschlands, Ingo und Ulf und ich, trafen uns auf einem leer gefegten Platz, es war ein Sonntag, es war ein Feiertag, wir betraten später unbefugt einen Garten, ich wurde mit den Schatten der behaarten Trauben eines großen dornigen Strauchs gesprenkelt, da erschien Marga, Ulfs neue Freundin, sie war meergrün und grotesk, sie war vom ultraharten Rand, sie warf uns sofort vor, weich wie harte Kekse zu sein, sie zeigte uns ihre mittleren Milchschneidezähne in einer Pillendose, sie biss Kerben hinein, und als sie uns im Schatten der Traubenbeere, im Schatten der behaarten Beeren, verriet, dass ihr Windhund Kefir fraß, trauten wir ihr alles zu, sie war härter als wir, sie zerhämmerte die Haken von Garderobenständern vom Spermüll, die spitzen Späne, die dabei entstanden, nannte sie die Zornblüten ihres Geistes. Große Worte, sie machten mich sofort argwöhnisch, mir wurde übel von den großen Worten. Ich wollte ihren Windhund Kefir fressen sehen. Ich wollte etwas Kefir, etwas Blabla, etwas Tobsuchtszelle, etwas Bumm, etwas geritzte Haut, etwas silbrige Schatten, etwas falsch, etwas gut, etwas nix davon. Ein böser Mensch legte mir am nächsten Abend einen präparierten Muskelstrang von der Kaninchenkeule auf den Teller. Es war ein Scherz. Ich aß kein Fleisch mehr. Ich wollte etwas blassblaue Müdigkeit. Etwas falsches Sprechen.
Etwas Katzenernst. Etwas mehr Strenge, etwas weniger Muskelstränge, etwas weniger schmutzige Spiele, etwas mehr Krapfen, etwas abnehmender Dreiviertelmond. Ich starrte auf die Aushänge der Schwarzen Bretter, ich las und verstand nichts, ich rieb mir den Schweiß von der Ellenbeuge, ich war umsummt von Kriebelmücken, ich träumte mit offenen Augen von dunklen Tannenwäldern, von wilden Wolken in Ostuganda.
Wer das Wort Zornblüte benutzte, war nicht ganz dicht, und als ich es Marga vom ultraharten Rand sagte, klatschte sie mir eine, und noch eine. Ich ging weg. Ich malte nix, ich las mir die Bekennerschreiben des knallharten Widerstands durch und entschied mich für die durchgängige kleinschreibung, die ich nicht einmal eine Woche durchhielt. Nach langer Suche fand ich Ingo im Wald. Er sprach mit lebhaften Gebärden mit einer Eiche. Als die Eiche trotz der Aufforderung, die Vermummung abzulegen und sich auszuweisen, schwieg, schlug er mit einem Stein, den er vom Boden auflas, auf die Eiche ein.
Ich sagte: Etwas weniger Stein. Da warf Ingo den Stein weg, und als er sich umdrehte, machte ich einen Satz zur Seite. Er sah aus wie ein fremder Mensch. Er hatte sich wegen seiner Schlupflider einer Operation unterzogen, weil er nicht mehr richtig sehen und lesen konnte. Jetzt konnte er richtig sehen und lesen. Es war alles sinnvoll, es würde alles im Desaster enden, wir setzten uns hin und aßen Walderde, ohne Käfer, mit Wurzeln, ohne Regenwürmer, ohne Marderkot. Dann liefen wir durch die Stadt, wir rochen die Fassadenfarbe der Häuser, wir rochen die Bürger, die nach der Dusche spazieren gingen, wir trafen einen alten Kriegsveteranen, der ein Viertel seines Körpers im Krieg hatte hergeben müssen, er sagte, seine einzige Freude sei es, zuzuschauen, wie das Wasser ihm von den Brusthaaren ins Waschbecken troff, morgens und abends, die anderen kleinen Freuden seien nicht erwähnenswert. Da kam Marga, die den Dreiviertelmann umarmte, es war ihr Vater, natürlich, es gab keine Zufälle.
Ich ging nach Hause, ich malte nix. Ich riss das Fenster auf, ich schrie: Neue Tage, neue Tage! Neue Tage!
Feridun Zaimoglu, Schriftsteller und bildender Künstler, debütierte 1995 mit „Kanak Sprak: 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft“. Zuletzt erschien „Sohn ohne Vater“, er stand 2025 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.
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