■ Gastkommentar: Die Sylvester-Chance
Schon richtig, man soll den Sylvesterabend erst am Neujahrstage loben. Aber ein bißchen loben kann man die gute Seite der Bremer Verhältnisse schon jetzt. Sie ist bei den Vorbereitungen zu diesem Jahreswechsel ganz unvermutet zu Tage getreten: Das Viertel plant ein Fest zu Sylvester, weil es keine Lust mehr hat, jedes Jahr zum Schauplatz der gleichen Aufführung zu werden, in der ein paar alkoholisierte Spezialisten die Sau rauslassen, und die Übrigen genervt sind oder Angst um ihre paar Quadratmeter Glas haben müssen. Wir planen ein Fest, natürlich: Aufs Feiern versteht sich das Viertel.
Obwohl Sylvester die unpolitischste Veranstaltung ist, die man sich denken kann, geht es hier untergründig um mehr als um ein paar kaputte Fensterscheiben. Diese Sylvesternacht könnte der Bremer Linie wieder ein bißchen Leben einhauchen. Die besagte einst, daß gesellschaftliche Konflikte mit einem gewissen Respekt voreinander ausgefochten werden müssen. Und daß man zivile Mittel der Auseinandersetzung einsetzt. Die Leute am Weidedamm und die Sielwallhausinitiative müßten daran ein elementares Interesse haben. Nach meiner Einschätzung ist auch die Polizeiführung in Bremen nicht scharf darauf, die Atmosphäre des großen Aufmarsches weiter zu pflegen. Im Polizeipräsidium sieht man die Chance ebenso, die in diesem Jahreswechsel steckt.
Ein Stadtteil versucht sich selbst zu helfen, - ohne dumme oder bösartige Ausgrenzung -, anstatt der Polizei eine unlösbare Aufgabe zuzuschieben. Als sich Polizeipräsident, Kaufleute und Karlheinz Kunde von der Sielwallhausinitiative verabredeten, in der Sylvesternacht zusammen Punsch auf der Sielwallkreuzung auszuschenken, wurde deutlich, daß es in dieser Stadt jenseits der harten Gegensätze und bösen Erfahrungen gelegendlich einen gemeinsamen Bezugspunkt gibt.
Robert Bücking, Ortsamtsleiter
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