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„Die Streikfront steht an allen Unis“

Auch in den kleineren Städten Chinas boykottieren StudentInnen die Vorlesungen / In Tianjin finden derzeit die größten Demonstrationen seit über zehn Jahren statt / Anders als in Chinas Hauptstadt gibt es hier keine Diffamierungskampagne der Medien  ■  Aus Tianjin T.Reichenbach

Nicht nur in Peking, auch in anderen Zentren Chinas wurde gestern demonstriert. In nahezu allen Universitätsstädten haben sich die StudentInnen den Pekinger Protesten angeschlossen. In der 120 Kilometer von Peking entfernten Stadt Tianjin, deren StudentInnen von jeher regen Kontakt mit den Pekinger Universitäten unterhielten, war das Echo besonders groß. An den beiden größten Unis der Stadt, der Tianjin- und Nankai-Universität, bietet sich das aus Peking vertraute Bild: die StudentInnen im Streik, vor der Mensa Wandzeitungen, mehrere hundert StudentInnen lesend oder diskutierend davor. Die von der Partei eingesetzte Studentenvertretung wird nicht anerkannt, statt dessen wurde ein autonomes Studentenkomitee gegründet, das die Aktionen koordiniert und als Sprecher auftritt.

Tianjin ist geprägt vom Kolonialstil, von dem halben Jahrhundert, als zeitweise acht Imperialmächte hier ihre eigenen „Niederlassungen“ beanspruchten, darunter auch das deutsche Kaiserreich. Heute zählt Tianjin zu den modernsten und größten Hafen- und Industriestädten Chinas, die Stadtregierung gilt als liberal und der Reform verpflichtet. Anders als in Peking gab es keine große Diffamierungs- und Schmutzkampagne gegen die StudentInnen. Die Polizei beschränkte sich auf Beobachtung und den Schutz der Einkaufsstraßen. Adressat der StudentInnenforderungen ist allerdings auch weniger die Stadtregierung, als vielmehr die Zentralregierung in Peking. Die Intention der Proteste liegt in der Unterstützung der StudentInnenbewegung in der Hauptstadt. Forderungen und Ziele gleichen denen der Pekinger StudentInnen: für Demokratie, für die Verwirklichung der in der Verfassung vorgesehenen Bürgerrechte, für die Fortsetzung der Reform, gegen Korruption und Parteifilz, Vetternwirtschaft und Wahrheitsverdrehung in den amtlichen Medien.

Ein Student der Nankai-Uni, der gerade Texte der Wandzeitungen auf seinen Kassettenrekorder spricht, gibt eifrig Auskunft über die beiden größten StudentInnendemonstrationen der Stadtgeschichte seit dem Sturz der Viererbande 1976: „Am 22. und 28.April sind mehrere zehntausend StudentInnen aus allen Hochschulen Tianjins auf die Straße gegangen. Wir sind stundenlang mit unseren Transparenten und Flugblätter verteilend durch die Stadt gezogen. Das anfangs vorneweg fahrende Polizeifahrzeug haben wir einfach ausmanövriert, indem wir unerwartet in eine Seitenstraße eingebogen sind. Die Bevölkerung hat uns unterstützt, selbst Polizisten haben applaudiert, als wir vorbeizogen. Die Streikfront steht jetzt an allen großen Unis. Zu den Pekinger StudentInnen halten wir Kontakt, täglich schicken wir wechselseitig Delegierte zum Informationsaustausch. Natürlich wird Erfolg oder Mißerfolg der StudentInnenbewegung letztlich von der Entwicklung in Peking abhängen. Wir hoffen nur, daß nach all den Ereignissen die Bewegung jetzt nicht auf halbem Wege stehen bleibt.“

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