: Die Straße ist wie dein zweites Ich
■ Vier Jahre tingelte Marco J., 19, von Bahnhof zu Bahnhof. Er war obdachlos und drogenabhängig. Heute läßt er sich resozialisieren
Ich bin jetzt 19 und eigentlich ziemlich am Arsch. Meine Nerven streiken, manchmal krieg' ich einen Tatterich in den Beinen, daß ich gar nicht ruhig sitzen kann. Es passiert auch, daß ich einfach wegklappe, so richtig einen Blackout kriege. Die Drogen. Clean bin ich jetzt seit vier Monaten. Den letzten Druck habe ich mir zu meinem Geburtstag gesetzt. Ich hatte einfach Bock, mich auf ein positives Level zu bringen. Mit Heroin schalte ich ab, da werd' ich ruhig. Aber ich möchte mit keinem Bankfuzzi in meinem Alter tauschen. Ich weiß, daß ich meine Lebenserfahrung nicht aus der Glotze geholt habe. Mein Lebensmotto ist: „Waffen und Munition werden geliefert, sucht euch die Wand aus“.
Das erste Mal bin ich mit acht in der Nervenklinik gelandet, in der DDR. Bei uns im Dorf ist jemand ersoffen, und ich habe gelacht. Einer Schwangeren habe ich in den Bauch getreten. Als Kind war ich schon ziemlich aggressiv. Angefangen hat das, als ich sechs war. Mein Vater hat mich immer auf seine Kneipentouren zum Zocken mitgenommen. Vier war ich, als das losging. Ich habe viel gelernt, sämtliche Taschenspielertricks im Skat kenne ich. Wenn ich müde war, habe ich auf der Kneipenbank gepennt. Damit ich besser schlafe, hat Vater mir einen Schnaps gegeben. Also an Alkohol habe ich mich früh gewöhnt. So richtig 'ne Droge ist das heute noch nicht für mich. Es entspannt einfach.
Als die Mauer fiel, bin ich raus aus dem Kinderheim und direkt nach Kiel gefahren. Hat sich so ergeben. Am Bahnhof bin ich hängengeblieben. Hab' gemacht, was man so macht. Autos geknackt, Radios rausgeholt, Koks oder Heroin gekauft. Speed, Pilze, alles habe ich probiert. Ich bin rumgekommen. In Köln auf der Domplatte habe ich Antje kennengelernt. Da war sie 12 und voll drauf. Kein Sozialarbeiter hat ihr helfen können. Der, der für sie zuständig war, hat ihr keine Wohnung besorgt. Nicht einmal in eine betreute WG konnte sie. Kein Platz. Statt dessen hat er ihr 100 Mark in die Hand gedrückt, damit sie sich Junk (Heroin, A.R.) kauft.
In Berlin habe ich mich an Freier verkauft. Auch an Frauen. Am Zoo steht ein Drogenbus. Da bin ich immer rein und habe mir die kaputten, eitrigen Füße verbinden lassen. Einmal sitze ich da und ich höre, wie ich zu dem Sozialarbeiter sage: Ich will mich auf die Reihe kriegen. Er gibt mir die Adresse von der Beratungstelle in Schöneberg. Da bin ich hin und hab' mich auf die Warteliste setzen lassen. Nach gut einem dreiviertel Jahr hatte ich die kleine Wohnung. Zimmer, Küche, Ofenheizung, Klo halbe Treppe tiefer, keine Dusche. Die 250 Mark Miete zahlt das Sozialamt. Außerdem gehe ich jetzt zur Schule, jedenfalls bemühe ich mich regelmäßig darum. Als Sozialarbeiter wäre ich der Richtige. Ich kenne ja das Leben auf der Straße. Ich kriege knapp 800 Mark Stütze. Ich komme damit rum. Es ist schon schwierig, das durchzuhalten. Wenn du auf der Straße gelebt hast, kannst du dich schwer einordnen. Du sehnst dich nach dem Dreck zurück. Da unten spürst du gefühlsmäßig alle Hochs und Tiefs, oben ist zwar die Wohnung, aber das Leben da ist wie eine Linie. Der ewige Gleichlauf der Uhr.
Wer sich auf die Sozialmaschine einstellt, der kommt auch irgendwann rein. Der kriegt den Personalausweis, die Bleibe, die Arbeit. Die Einsamkeit bleibt. Die Straße, das Heroin ist wie dein zweites Ich. Das kannst du nur schwer abbauen. Du verstehst manchmal die Welt und die Leute nicht. Und irgendwie verstehen sie dich auch nicht. Die meisten Leute sind müde. Sie geben den Trebern ein paar Groschen, weil sie die Probleme nicht sehen wollen. Was wichtig ist im Leben? Schwer zu sagen. Ich glaube es gibt gar nichts. Den Traum von der großen Family habe ich schon lange aufgegeben. aufgezeichnet von A.R.
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