: Die Stadt ohne Gedächtnis
Seit mehr als einem Jahrhundert gilt Berlin als Hochburg von Kommunisten, Sozialisten und Sozialdemokraten. Doch ist Berlin noch links? Und was heißt das? Der Weg war lang vom „roten Wedding“ der Zwanziger über das „SO 36“ der Frontstadt bis zum „Sparen, bis es quietscht“. Eine Spurensuche
VON MATTHIAS LOHRE
Es könnte alles ein gewaltiges Missverständnis sein. All das Gerede über das angeblich „rote Berlin“, das stets ein Bollwerk linken Denkens gewesen sei. All die wortreiche Beschwörung sozialistischer und sozialdemokratischer Traditionen von der Kaiserzeit bis heute, von Wilhelm I. bis Wowereit. Denn was soll das überhaupt sein: eine linke Stadt? Und wenn Berlin es je war: Was ist davon geblieben, und was hat die Zeit links liegen gelassen?
Wer darauf Antworten sucht, der findet sie exemplarisch am Kollwitzplatz. Hier wohnen viele, die das Wort vom ehemaligen Arbeiterbezirk im Munde führen, wenn sie von Prenzlauer Berg reden. Mancher wähnt sich unter Ahornbäumen in wohlig-morbider Nachfolge von Industriearbeitern, die zur Jahrhundertwende hierher zogen, um zentral, preiswert und nahe ihren Arbeitsplätzen zu leben. Mancher weiß vielleicht noch, dass der nach alten Postleitzahlen lange „NO 55“ genannte Bezirk bis 1933 als Hochburg der SPD galt. Schnell scheint die Antwort gefunden: Der Prenzlauer Berg war und ist ein Zentrum dieses „linken Berlins“. Aber so einfach ist es nicht.
Direkt am angeblich proletarischen Kollwitzplatz, in der Husemannstraße, wohnten zu Kaisers Zeiten die Offiziere des 2. Garde-Regiments. Das passt nicht ins bekannte Bild des heute wieder beliebten Stadtteils. Doch selbst die mit Marmor ausgeschmückten Hauseingänge, Stein gewordenes Echo dieser Vergangenheit, bringen die meisten hier Lebenden nicht vom lieb gewonnenen Bild „ihres“ Stadtteils ab. Was auf den ersten Blick wie ein unwichtiges Detail wirkt, zeigt, worum es geht. Um ein schlechtes Gedächtnis.
Selektive Wahrnehmung
Bertolt Brecht wird das Zitat zugeschrieben: „Es gibt einen Grund, warum man Berlin anderen Städten vorziehen kann: Weil es sich ständig verändert. (…) Meine Freunde und ich wünschen dieser großen und lebendigen Stadt, dass ihre Intelligenz, ihre Tapferkeit und ihr schlechtes Gedächtnis, also ihre revolutionären Eigenschaften, gesund bleiben.“ Genau diese selektive Wahrnehmung prägt das Bild vom „linken Berlin“ bis heute. Immer wieder in den vergangenen Jahrhunderten hat der Zustrom von Zuzüglern die Stadt erneuert, belebt – aber auch ihre Erinnerung getrübt.
Daher kann, wer die Stadt an der Spree in ein einheitlich rotes Licht tauchen will, das auch tun. Doch die Wirklichkeit ist komplizierter. „Es gab links geprägte Kieze“, sagt dazu Laurenz Demps, über Jahrzehnte Geschichtsprofessor an der Humboldt-Universität, „aber nicht ganze Bezirke.“
Berlin als Ganzes war nie links. Als sozialdemokratisch galt neben „NO 55“ auch der Friedrichshain. Das berühmte „SO 36“ in Kreuzberg hingegen war bis zur Machtübernahme der Nazis 1933 – und sogar noch bis 1936 – ebenso eine KPD-Festung wie der Wedding. Links war schon damals nicht gleich links.
Wer als Kommunist den Staat umstürzen wollte, fühlte sich mitnichten den moderateren Systemveränderern in der SPD verbunden. Soziale Randschichten lebten rund um den heutigen Ostbahnhof („O17“), damals ein Zentrum von Armut, Prostitution und Kleinkriminalität. „W8“ stand hingegen für die reicheren Westgegenden mit ihren Reichsbehörden, „C1“ für das Stadtschloss.
Lange bevor eine Betonmauer West- und Ostteil der Stadt sichtbar teilte, ging ein Schnitt durch Berlin. Seit Jahrhunderten hatte sich der bürgerliche Westen mit seinem Kern Charlottenburg anders entwickelt als der später gewachsene proletarische Osten. Bis zum Alexanderplatz schafften es schon vor hundert Jahren viele alteingesessene „Westler“ nicht.
Erst der Zweite Weltkrieg und seine Folgen formten die heutigen Hochburgen der Linken. Wer Folterkeller, Konzentrationslager, Bomben oder Soldatentum nicht dahingerafft hatte, war allein zu schwach, um sozialdemokratischen und kommunistischen Traditionen neues Leben einzuhauchen. Im Westteil siechte bereits seit Ende der 40er-Jahre die Schwerindustrie vor sich hin. Siemens in Spandau, Borsig in Reinickendorf und AEG in Wedding konnten in der eingeschnürten „Frontstadt“ nicht expandieren. Mit ihnen ging die klassische Arbeiterschaft ein.
Was in Westberlin seit den 60er-Jahren entstand, war ein Flickenteppich aus sozialdemokratisch und CDU-orientierten Kiezen. Die SPD fand zu einer neuen Rolle: als Verteidigerin der Freiheit in einer lebensgefährlich bedrohten Stadt. Nie erzielte die Partei bessere Wahlergebnisse als während Stalins Blockade 1948 und 1963 bei den ersten Wahlen nach dem Mauerbau.
Als das Viermächteabkommen 1971 den Status der geteilten Stadt vertraglich regelte, entspannte sich die Situation in Westberlin – und läutete das Ende einer sozialdemokratischen Ära ein. Der Wettstreit der Parteien richtete sich nach Jahrzehnten, in denen SPD-Bürgermeister wie Willy Brandt sich als Gralshüter demokratischer Werte profilieren konnten, auf die kommunale Ebene. „Und hier war der Kompetenzvorsprung der sozialliberalen Koalition keineswegs so ausgeprägt wie auf dem Gebiet der Deutschland- und Ostpolitik. Nicht das Berlin-Problem – die Probleme Berlins rückten in den Mittelpunkt“, schreibt der Historiker Dirk Rotenberg. „Die Sozialdemokraten in Berlin brauchten lange, um dies zu erkennen.“ Der Erfolg ihrer Vertragspolitik „läutete zugleich die nachlassende Verankerung der SPD bei den Berlinern ein. Mit ihrem Erfolg hatte sich die SPD selbst entbehrlich gemacht“, so der Berlin-Experte.
Kreuzbergs „SO 36“ war unterdessen zu einem geduldeten Biotop geworden: für junge Männer, die dem Wehrdienst im Bundesgebiet entgehen wollten, und für viele andere, die sich als alternativ begriffen. Zumindest hier und im Wedding lässt sich eine rote Linie vom Kaiserreich bis heute ziehen. Das Gleiche gilt für große Teile Friedrichshains und des Prenzlauer Bergs. Für andere Gebiete der ehemaligen DDR-Hauptstadt lässt sich das nicht sagen.
Wo bis heute Linkspartei-Kandidaten um die 50 Prozent für sich verbuchen können, war vor sechzig Jahren plattes Land. Erst in der DDR entstanden hier die Plattenbauten. Nach Marzahn, Hellersdorf und Lichtenberg holte die DDR-Führung Funktionäre der SED – kadertreue Genossen aus dem ganzen Arbeiter-und-Bauern-Staat. Wieder einmal wirbelte der Lauf der Geschichte ganze Bevölkerungsgruppen in die Stadt und mischte die Karten neu. Die Farbe dieser Karten war zwar noch immer rot, aber sie hatten einen anderen Farbton.
Kind des Kalten Krieges
Was heute viele Berliner als linke Politik verstehen, ist ein Produkt des Ost-West-Konflikts. West- wie Ostberlin konnten sich Wohlstand nur mit massiver Unterstützung leisten. Das „Schaufenster des Westens“ wurde bis in die 90er-Jahre von der reichen Bundesrepublik alimentiert – in der „Hauptstadt der DDR“ war es bis zum Untergang ähnlich. Nie mussten sich die repräsentativen Stadthälften vollständig selbst finanzieren.
„Links“ sein ist daher bis heute für viele in Ost und West gleich bedeutend mit Verteilung bestehenden Wohlstands. Das galt auch für CDU-Oberbürgermeister wie Eberhard Diepgen. „Tatsächlich hatte Diepgen keine bürgerliche Politik vertreten, sondern den Sozialdemokratismus eines ideellen Gesamtpersonalrats“, formulierte es die Wochenzeitung Die Zeit.
Eine Stadt ohne Industrie
Doch seit 1991 ist die Zahl der Industriearbeiter dramatisch von 256.000 auf 98.000 geschrumpft. Gleichzeitig ist die Zahl der Erwerbstätigen von 1,66 Millionen auf 1,55 Millionen in diesem Jahr gesunken. Als 1989 die Mauer fiel, erlebte die marode Ostindustrie, was Spandau oder Wedding in den Jahrzehnten zuvor durchgemacht hatten.
Industrieproletariat und SED-Funktionäre gibt es nicht mehr, auch die Jobs in klassischen Angestelltenberufen werden weniger.
Heute ist Berlin in der paradoxen Situation, dass ein sozialdemokratischer Regierender Bürgermeister in einer Koalition mit Sozialisten nicht mehr Wohlstand verteilt, sondern „spart, bis es quietscht“. Das lässt sich einerseits als „Normalisierung“ Berlins lesen. Schließlich tut ein SPD-Bundeskanzler im Großen dasselbe. Aber dahinter steckt auch eine große Verwirrung vieler Wähler, was linke Politik heute kann und soll. Nach dem Motto: Wenn ich schon unters Messer muss, dann bitte beim Arzt mit den warmen Händen. Der Erfolg der Operation ist jedoch weniger sicher.
Die Verwirrung über den Frontverlauf zwischen links und rechts ist bis heute nicht verflogen. Der neue CDU-Landesvorsitzende Ingo Schmitt etwa fordert – klassisch sozialdemokratisch – den Verbleib von Genossenschaftswohnungen beim Land Berlin. Gleichzeitig poltert die Union in Kalter-Krieg-Rhetorik gegen „tiefe sozialistisch-kommunistische Ideologie“ im Senat.
Vielleicht ist die Geschichte des linken Berlins kein Missverständnis. Aber eine plumpe Vereinfachung ist es allemal. Letztlich könnte sich der Pulverdampf nach einem Jahrhundert voller Geschützdonner heißer und kalter Kriege tatsächlich gelegt haben. Bei klarer Sicht könnte eine Stadt erkennbar werden, die eine Zeit lang Weltmetropole gespielt hat. Die erst langsam erkennt, dass sie nur eine große Kommune ist. Von einer „plebejischen Stadt“ sprach vor Jahren der CDU-Kulturpolitiker Günter Nooke. Nach dem Ende der engen Parteienbindung bleibt ein seltsam unpolitisches Kleinbürgertum, das sowohl links wie rechts mobilisierbar ist. Das haben noch nicht alle begriffen. Aber vielleicht hilft denen, die allzu gedankenverloren der klassenkämpferischen Geschichte der Stadt nachhängen, ja wieder einmal ein Rat Bertolt Brechts: „Nichts vergoldet die Vergangenheit so sehr wie ein schlechtes Gedächtnis.“