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Die Stadt neu hören

Musikalischer „Ausblick privat“ und nicht-sterile „Clinic“: Zwei interaktive „artgenda“-Projekte, die nicht mit Zwang, aber mit subtilen Verhaltens- und Wahrnehmungsverschiebungen arbeiten

von PETRA SCHELLEN

Die Gruppe Wuuul hat ein chinesisches Nadelkissen als fotografische Metapher für ihr Projekt gewählt – ein Bild, das auch als Sinnbild der gesamten, am morgigen Freitag startenden Ostseekunst-Biennale artgenda taugt: Sozusagen mit Künstlern besticken wollen die Organisatoren für zweieinhalb Wochen die Stadt Hamburg. Sie wollen „ungewohnte Orte mit Kunst besetzen“, wie Mit-Kurator Veit Sprenger es formuliert.

Dabei wollen sie weder einem Starkult huldigen noch das Individuum völlig verschwinden lassen: Die insgesamt 170 anreisenden Künstler werden im Kollektiv arbeiten, dabei aber durchaus kenntlich bleiben. Sie sollen temporäre Hamburger Mit-Einwohner werden, die durch den performativen Charakter der Projekte jederzeit ansprechbar sind.

„Wir wollen den Hamburgern die Möglichkeit bieten, sich wie Touristen durch die eigene Stadt zu bewegen“, sagt etwa Jan Dvorak, der eine „Gruppenausstellung von Musik“ namens „Ausblicke privat“ vorbereitet: Hamburger Kitsch-Klischee-Ansichtskarten hat er gekauft und vor Monaten an die jetzt anreisenden Künstler aus den Ostsee-Anrainerstaaten verschickt. Sie sollten die „Ausblicke“ vertonen. Fünfminütige bis CD-lange Soundtracks sind dabei herausgekommen. Die Resultate reichen vom gesprochenen Text über Soundscapes bis zu elektronischen Stücken.

Erlauschen kann man all dies vom 8. Juni an in acht hölzernen Ohren-Sesseln, die in Innenstadt und Hafengebiet an den Orten aufgestellt werden, von denen aus sich der Blick auf das jeweilige Postkarten-Motiv bietet. „Vielleicht hört man die vertrauten Ausblicke dann mit neuen Ohren“, hofft Dvorak.

„Wir wollen den Besuchern Erlebnisse ermöglichen, die der konventionelle Kunstbetrieb nicht bietet“, sagt auch Josephin Böttger von der Ateliergemeinschaft Nordseite Hawaii, „Patin“ des Projekts „Clinic“. In fünf Räumen in einem Flachbau am St.-Georgs-Kirchhof werden sie ihr Projekt durchführen, „das die Erfahrungen einer Klinik und ihres Leitsystems imitiert und bricht: Wer mag, kann sich zu Beginn am Tresen anmelden und sich anschließend z. B. durch Identitäts-Tauschmaschine und Desinfektions-Performance schleusen lassen.

„Man kann sich dem Projekt entweder kontemplativ nähern, indem man den Künstlern einfach zusieht – oder man wirkt mit, setzt sich zum Beispiel ins Ich-Tausch-Laboratorium“, so Böttger. Doch parallel zu allem Unvorhersehbaren, auf das sie hofft, „wollen wir unsere technischen Abläufe sehr wohl unter Kontrolle halten: Mit Überwachungskameras zeichnen wir alles auf, was in den Räumen passiert und schicken die aufgenommenen Bilder dann blitzschnell wieder raus – zum Beispiel in den Nebenraum.“

Eine Art Gleichzeitigkeit der Wahrnehmung, ein Zeitraffer durch Mauern hindurch kann so entstehen, eine „mediale Rotation“, verursacht durch den rasanten Austausch der Bilder, die sekündlich von der Gegenwart in die Vergangenheit springen. „Denn letztlich geht es natürlich um Kunst“, erklärt Böttger. Etwa um die Frage, welche „Operation“ eigentlich am Menschen vorgenommen wird, der sich in die „Klinik“ Museum begibt, deren festgelegte Regeln den Besucher – dem Krankenhaus und anderen Institutionen vergleichbar – schnell zur Nummer degradieren. „Und genau hier wollen wir ansetzen“, sagt Böttger. „Wer zu uns kommt, soll sich wirklich aufgenommen fühlen.“

Eröffnung von Jan Dvoraks „Ausblick privat“: Sa, 8. 6., 16 Uhr, artgenda-Center, (Steindamm 63). – Eröffnung „Clinic“: Di, 11. 6., 19 Uhr, St. Georgs-Kirchhof 1-3. „Kliniktage“ für Besucher: Di, Do, So ab 17 Uhr.

Information über alle Veranstaltungen unter www.artgenda.com, unter Info-Tel. 040 - 28 40 96-80 bzw -81 sowie im artgenda-Center (Steindamm 63). Dort kann man täglich auf die Events abgestimmte Parcours-Päne abholen, auf denen auch die Standorte der Ohren-Sessel verzeichnet sind. – Ein Bus-Shuttle, der alle Stationen anläuft, startet täglich im 3/4-Stunden-Takt vom artgenda-Center. – Führungen zu Fuß : Mi, 12. 6., 18-20 Uhr; So, 16.6., 14-16 sowie 16-18 Uhr; Mi 19. 6., 17-19 Uhr. Preis: 6 bzw. 4 Euro. – Anmeldung, Anfragen für weitere Führungen unter Tel. 040-28 40 96-80 bzw -81

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