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Die Spießer sind wir — nicht die andern

Verzicht kommt sowieso. Es ist nur die Frage, ob selbstbestimmt und gemeinsam oder zerstörerisch und getrennt. Ist die Mehrheit der Deutschen bereit, sich dauerhaft ins Weniger einzuüben?  ■ Von Reinhard Loske und Bernd Ulrich

Deutschland sucht Asyl. Es ist auf der Flucht vor sich selbst. Vor seiner wiedergewonnenen Größe, seiner neuen Häßlichkeit und den vermehrten Problemen.

Die Schwierigkeiten im Osten Deutschlands, der wachsende Haß gegen Ausländer und die ökonomische Krise haben vielfältige Ursachen. Von den denkbaren Lösungen allerdings wird keine greifen, solange die Mehrheit der Deutschen, die wohlständige und wohlanständige Mitte, sich nicht entschieden bewegt.

Bisher tut sie das gerade Gegenteil. Sie macht sich schwer und verteidigt den Status quo der Besitzstände und Gewohnheiten – aus der Zeit vor der 89er-Wende. Die oberen zwei Drittel – insbesondere der Westdeutschen – sind es, die alle Spielräume verengen und neue Perspektiven ersticken. Gleichzeitig sind sie darüber entsetzt, daß sich an anderen Stellen und fernen Orten Deutschlands die Atmosphäre aufheizt.

Ernstzunehmende Belastungen sind westlich des ehemaligen Zauns und oberhalb der 2.000- DM-netto-Grenze bisher kaum angekommen. Dennoch stellt man die Phantomschmerzen öffentlich zur Schau: Ob es die Zahnärzte sind, die sich wegen einiger Kürzungen gleich im „Kriegszustand“ mit Gesundheitsminister Seehofer wähnen; ob es die ÖTV-Mitgliedschaft ist, die eigenen Sprüche von der existentiellen Not zu glauben: „Die Taschen sind leer, mehr Geld muß her“. Oder die deutsche Wirtschaft, die sich mittlerweile wöchentlich „an der Grenze der Belastbarkeit“ ankommen sieht. Längst ist es zum Ritual geworden, jedwede Bonner Kürzungsvorschläge mit Lobbyistengeheul und Verbänderhetorik zu vertreiben.

Neonazistische Gewalttaten nehmen an Zahl und Härte zu; die EG ist teuer, ihre Entwicklung aber ungewiß; Einwanderung nimmt zu und ist rechtlich geregelt; Politiker gelten als korrupt und machtvergessen.

All das sind reale Probleme, die aber wie Satelliten um die eigentliche Frage kreisen: Ist die Mehrheit der Deutschen bereit, sich dauerhaft ins Weniger einzuüben? War unsere westdeutsche Zivilität nur ein Nebenprodukt des ständig wachsenden Wohlstands, oder ist sie zu einer eigenen Kraft geworden?

Nach drei Jahren des verweigerten Umbruchs ist offenkundig, was wirklich hinter den Bilanzen steckt. Die Wahrheit über die öffentlichen Haushalte: Sparen. Die Wahrheit über die Einheit: Teilen. Die Wahrheit über die Zuwanderung: nochmals Teilen. Die Wahrheit über die Ökologie: Verzicht.

Das größte Hindernis gegen ehrliches öffentliches Reden ist das merkwürdig verschobene Selbstbild, das die in Deutschland kulturell dominierende und wahrscheinlich auch zahlenmäßig überwiegende Gruppe von sich hat.

Die Mehrheit meint nämlich, sie sei noch immer Minderheit. Sie denkt, das Hauptproblem seien bis heute die Spießer – die anderen Spießer. Darum kommen sie nie auf den Gedanken, sie selbst könnten der Kern des Problems sein. Ihre Verschwendungssucht verklären sie als Genußkultur, als Teil einer lebenslangen Revolte gegen die Kirche und die Eltern, die alten Lehrer und neuen Chefs. Dieser moderne Spießer kann nicht glauben, daß es sein Anspruchsdenken, sein Schnorren beim Staat, seine kabarettistische Einstellung zu allen Werten und Institutionen sind, die anfangen, der Republik die Luft abzuschneiden. Denn schließlich sind all diese Eigenschaften, Ansprüche und Gewohnheiten einmal als relative Revolte entstanden; schließlich haben sie zur Liberalisierung und Humanisierung Deutschlands beigetragen, solange sie minoritär blieben. Und solange die Bundesrepublik vor einem großen Teil der Welt mit einer Mauer geschützt war.

Wie immer man sich den Spießer von heute vorstellt: er trägt keine Kniestrümpfe, hat weder einen röhrenden Hirsch überm Sofa noch große Schwierigkeiten, über Sex zu reden. Samstag ist nicht sein Badetag, und den Sommerurlaub verbringt er sicher nicht in Österreich. Nein, so billig lebt er nicht.

In über vierzig Jahren Bundesrepublik ist ein Quasi-Menschenrecht auf Rundumversorgung entstanden. Zum Problem gehört der Therapeut, zur Mobilität das Auto, zum Streß die Karibik, zum Kind der Game-Boy, zum Sex die Dessous, zur Ehe die Scheidung, zum Berg das Bike und zum See das Brett. Die Mandarine des Mittelstandes, die Lobbyisten des jährlichen Skiurlaubs, schicken sich an, dieses „Menschenrecht“ zu verteidigen. Genau daraus entsteht das explosive Gemisch. Eine paradoxe Situation: Die Mehrheit will zurück in die goldenen 80er und könnte dabei auf Methoden angewiesen sein, die besser in die 30er paßten – mehr Staat, mehr Polizei, Abschottung nach innen und nach außen. Das Gespenst von Weimar auf dem Wohlstandsniveau von Schlaraffia. So trifft sich der zivilisierte Konsumismus mit dem barbarisierten Nationalismus, auch wenn man sich dabei vorläufig in aller Gegnerschaft dem moralischen Zeigefinger und den ausgestreckten Arm zeigt.

Damit nicht zusammenwächst, was nicht zusammengehört, müßte viel geschehen: Nötig wäre das Einüben ins Weniger, ein neuer Common sense. Der alte, der der Bundesrepublik – mehr Anstand durch mehr Wohlstand –, taugt nicht mehr.

Tatsächlich wird hinter verschlossenen Türen in Politik und Wirtschaft schon unverhohlen von einer fünf- bis zehnjährigen ökologischen Auszeit gesprochen. Solange soll bei Konflikten zwischen kurzfristigen ökonomischen Interessen und Umweltbelangen die Natur hintangestellt werden.

Dem liegt ein ganzes Bündel von Illusionen zugrunde. Zunächst: Es ist höchst unwahrscheinlich, daß binnen zehn Jahren erneut Überschüsse erwirtschaftet werden, mit denen sich Umweltpolitik im alten Stil wiederaufnehmen ließe. Die Anstrengung, den ökologischen Anstand trotz knapper werdender ökonomischer Ressourcen zu wahren, steht uns also ohnehin bevor.

Alles, was wir heute unterlassen, kostet uns in zehn Jahren ein Vielfaches. Nicht zuletzt handelt es sich um Vernichtung von Unwiederbringlichem. Die ökologische Wende zu verschieben hieße darum, in vielen Bereichen vor dem Nichts zu stehen.

Wichtiger aber als diese praktischen Argumente gegen eine ökologische Auszeit ist die Frage: Wozu eigentlich? Sollen wir auf den Erhalt der Restnatur verzichten, nur um uns länger in trügerischem Wohlstand wiegen zu können? Die Idee und beginnende Praxis der Auszeit gehorcht derselben Logik wie die Vorstellung, die Zuwanderung stoppen zu können. Beides gibt der Mentalität nach, die alle Hemmungen der Zivilität abzulegen droht, wenn der wachsende Wohlstand gefährdet ist.

Die Auszeit würde vor allem einen ganz wichtigen Teil von dem zerstören, um dessen willen eine gemeinsame Anstrengung überhaupt möglich scheint. Was eigentlich bliebe Deutschland an positiver Identität, wenn die Ökologie abschmölze (80er Jahre), dann die demokratische Liberalität (70er Jahre) und schließlich auch der schiere Wohlstand (60er Jahre) dahin wäre?

Nur muß ökologische Politik sich ihrerseits aus den Fesseln der 80er Jahre befreien. Denn auch sie hatte sich auferlegt, nichts zu wollen und zu fordern, was dem Anspruch auf Wohlstandsstabilität entgegenstehen könnte, gleichzeitig aber mit Katastrophismus Politik zu machen versucht.

Unausweichlich scheint uns ein doppelter Abschied: von bürokratischen Umbauphantasien und öffentlich gepredigtem Untergang, der ohnehin nur die berüchtigte „German Angst“ geschürt hat.

Heute fragt sich, was von Effizienzrevolution und Lebensstilwandel Rücksichten auf den Zeitgeist der 80er Jahre waren und was zukunftsfähig ist. Die Ökologie muß selber den Sprung in die 90er noch schaffen und ihr Luxuskleidchen ablegen.

Wer wollte verneinen, daß es vernünftig ist, den Heizenergiebedarf unserer Wohnungen durch bessere Wärmedämmung zu halbieren, Autos zu bauen, die sich mit fünf Litern Benzin auf 100 Kilometer begnügen, Kraftwerke zu errichten, deren Wirkungsgrade die heutigen Anlagen zu Industriedenkmälern machen, Produkte herzustellen, die ihrem Verbraucher trotz verminderten Rohstoffeinsatzes ungeschmälerten Genuß verschaffen?

Es ist nicht das schlechteste, den Techniker an seiner Seite zu wissen, wenn es gegen die Tonnenideologie das Effizienzprinzip durchzusetzen gilt. Auch ist es der Kraft ökologischer Argumente durchaus zuträglich, wenn Ökonomen deren volkswirtschaftlichen Nutzen errechnen. Und dennoch: So unzweifelhaft notwendig die Orientierung der Energie- und Umweltpolitik an den Zielen einer verbesserten Effizienz ist, so fragwürdig ist es, ob eine solche Orientierung ausreicht. Wir glauben, die Einengung der Ökologie- Diskussion auf die Ziele verbesserter Energie- und Rohstoffeffizienz läuft – auf die Spitze getrieben – sogar Gefahr, kulturell höchst fragwürdige Ergebnisse hervorzubringen.

Martin Jänicke von der Forschungsstelle für Umweltpolitik der Freien Universität Berlin hat in einer jüngst veröffentlichten Studie darauf hingewiesen, daß die positiven Effizienzeffekte des ökologischen Strukturwandels durch hohe Wachstumsraten tendenziell wieder aufgehoben werden. Rechne man die Wachstumsraten langfristig hoch, so Jänicke, müsse man zu dem Schluß kommen, „daß selbst der radikalste Strukturwandel ökologisch negative Wachstumseffekte nicht mehr durch Struktureffekte kompensieren kann“.

Es ist kein Defätismus, wenn man sich beim Wettlauf von Effizienz und Volumen an das Märchen von Hase und Igel erinnert fühlt: Immer wenn die schnittigen Bannerträger der Energieeffizienz ins Ziel stürzen, sind die trägen Protagonisten der Quantität längst da. Wer glaubt, den Menschen ohne Unterlaß vorrechnen zu müssen, eine ökologische Wende, die diesen Namen wirklich verdient, sei zum Nulltarif oder gar „at a profit“ zu haben, der unterschätzt ihren Common sense. Das Zurückweichen „moderner“ Ökologen vor Zumutung, geboren aus der Furcht, als Verzichtsprediger bezeichnet zu werden, droht sie nun zu Sozialtechnokraten zu machen.

Um die aus Gründen des Klimaschutzes weltweit erforderliche Halbierung der Kohlendioxidemissionen nur auf dem technischen Wege zu erreichen, müßte sich das Effizienzdenken überdies radikalisieren. Spätestens dann jedoch würde es seine nivellierende Wirkung entfalten: kein knisterndes Kaminfeuer mehr, weil sich der Wärmebedarf doch viel effizienter aus einem gasbetriebenen Blockheizkraftwerk decken läßt; kein klappriger „Käfer“ mehr auf unseren Straßen, weil sein Motor den strengen Verbrauchsstandards nicht genügt; keine bummelnde Diesellok mehr, statt dessen nur noch windschlüpfrige Geschosse auf schrankenlosen Gleisen? Eine Horrorvision!

Kommt Wandel – auch vermeintlich ökologischer – als verordnete Homogenisierung, ist jede Form der Renitenz dagegen ein gesunder Reflex. Nicht im selbstgefälligen „Weiter so“ liegt die Alternative zum allumfassenden Effizienz-Diktat, sondern in einer Verbindung von menschengemäßem technischem Fortschritt und Genügsamkeit, die aus besserer Einsicht wächst.

In einer solchen Welt müßte keineswegs graue Freudlosigkeit herrschen. Im Gegenteil: Anders als in der gleichgerichteten Effizienzgesellschaft könnte hier die Ausschweifung neben der Einschränkung, das Laster neben der Tugend, das Prassen neben dem Fasten, der Sonntag neben dem Alltag stehen. Ein gutes Leben in den Grenzen des Zuträglichen müßte keine Utopie bleiben, würde der Übergang vom „Viel- Teuer-Oft“ zum „Wenig-Teuer- Selten“ als gesellschaftliche Aufgabe begriffen.

Soll ökologische Politik mehr sein als milliardenschwere Umbauprogramme, dann gilt es jetzt aus der Not eine Tugend zu machen. Gelingen wird das freilich nur, wenn alle gesellschaftlichen Gruppen mitmachen. Vor allem aber die Politik ist gefordert, eine Führungsrolle einzunehmen. Nur so kann der Verzicht als gemeinsame Aufgabe statt als individueller Niedergang erlebt werden. Dabei muß der Wandel sowohl die Dimension des Tuns, etwa bei der Einführung von Öko-Steuern, als auch die des Unterlassens, etwa beim Straßenbau, einschließen.

Politiker, die zukunftsverträgliche Entscheidungen treffen, bräuchten keine übermäßige Angst vorm Wahlvolk zu haben, solange die Entscheidungen nur als gerecht empfunden werden. Verzicht kommt sowieso. Es ist nur die Frage, ob selbstbestimmt und gemeinsam oder zerstörerisch und getrennt. Mitentscheidend dabei ist, ob die Bundesrepublik eine Form der Selbstermutigung findet, die jenseits ihrer wirtschaftlichen Stärke liegt.

Es gibt zahlreiche Versuche, die Nation als identitätsstiftende Institution wiederzubeleben. Unabhängig davon, wie man diese Orientierung bewertet; bisher spricht nichts dafür, daß die Deutschen für die Idee der Nation bereit sind, Opfer zu bringen. Im Gegenteil. Die Nation dient nicht der Überwindung von Einzelegoismen, sondern sie ist ihr Instrument.

Ohnehin ist schwer vorstellbar und auch nicht wünschenswert, daß Deutschland mit alten Attributen – groß, stark, wehrhaft – zu einer neuen Identität findet. Andererseits kann das Sentiment Richtung alter Bundesrepublik nicht den Kitt für die Zukunft bilden. Wie immer darum das neue Deutschland aussieht: die Ökologie sollte darin eine herausragende Rolle spielen. Der Erhalt der Schöpfung ist das, worauf man sich hierzulande mit größter Wahrscheinlichkeit als gemeinsames Ziel einigen kann. Die ökologische Wende, das Einüben ins Weniger, könnte dann auch neue Kräfte freisetzen.

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