: Die Sperrklausel senken
■ Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm zur Frage eines unterschiedlichen Wahlrechts und entsprechender Sperrklauseln.
INTERVIEW
taz: Innenminister Schäuble, CDU-West und -Ost, CSU und DSU fordern für die ersten gesamtdeutschen Wahlen zwei unterschiedliche Gesetze. Es soll die Fünf-Prozent-Klausel gelten. Allerdings will man dann die Wählerstimmen nicht auf das gesamte Wahlgebiet hochrechnen. Sie sollen nur auf das jeweilige Territorium begrenzt gezählt werden. Die Folge: Abgegebene Stimmen in der DDR wären „wertvoller“. Ist dies mit dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl vereinbar?
Dieter Grimm: Es ist jedenfalls nicht unproblematisch. Auch bei einer Fünf-Prozent-Klausel, die auf das jeweilige Territorium bezogen ist, bleibt der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit berührt. Die Stimme eines DDR-Wählers hätte dann immer noch eine höhere Erfolgschance als die des bundesrepublikanischen Wählers, und auch die kleinen Parteien besäßen in der DDR bessere Erfolgsaussichten als in der Bundesrepublik. Das Bundesverfassungsgericht hat bisher Differenzierungen beim Erfolgswert der Stimmen nur ausnahmsweise und aus zwingenden Gründen anerkannt. Als ein solcher zwingender Grund ist vor allem die Aufrecherhaltung der Funktionsfähigkeit der Parlamente und der Ermöglichung regierungsfähiger Mehrheiten akzepiert worden. Diese Gründe würden zwar eine gleichmäßige, nicht aber eine für beide Territorien unterschiedlich hohe Sperrklausel rechtfertigen.
Welche Gründe denn sonst?
Ein politisch plausibler Grund für unterschiedlich hohe Hürden liegt in der unterschiedlichen Ausgangssituation in der BRD und in der DDR. In der DDR ist der Prozeß der Formierung politischer Gruppen und der Bildung politischer Präferenzen erst vor kurzem in Gang gekommen und noch keineswegs abgeschlossen. Es wäre bedauerlich, wenn er durch eine hohe Sperrklausel im Wahlrecht vorzeitig abgebrochen würde. Überdies werden einige Parteien wohl nur in der DDR kandidieren. Diese hätten bei einer auf das ganze Wahlgebiet bezogenen Fünf-Prozent-Klausel nur geringe Chancen.
Aber dieser politisch plausible Grund kann kein zwingender, weil verfassungsrechtlich gebotener Grund sein?
Er könnte möglicherweise ein zwingender Grund für ein ungleiches Wahlrecht sein, wenn er den einzigen Weg bildete, die staatliche Einheit, die das Grundgesetz als Ziel vorgibt, unter Berücksichtigung der verschiedenen Ausgangssituationen zu erreichen. Ob das der Fall ist, erscheint mir zumindest zweifelhaft.
Zum einen nennen Sie die Forderung nach einer niedrigeren Sperrklausel für das Gebiet der DDR politisch plausibel. Zum anderen bezweifeln Sie, daß diese Differenzierung verfassungsrechtlich möglich ist. Wie löst man diesen Widerspruch?
Es gibt eine naheliegende Lösung, die kein verfassungsrechtliches Problem aufwirft. Das ist eine niedrigere Sperrklausel für das gesamte Wahlgebiet, also sowohl für die DDR als auch für die Bundesrepublik.
Und wo soll die neue, niedrigere Schwelle für den Sprung ins Parlament liegen?
Man könnte, um zu einer zahlenmäßigen Grenze zu gelangen, zum Beispiel das Wahlergebnis vom 18. März zugrunde legen und fragen, welchen Stimmenanteil Gruppen von einiger Relevanz erreicht haben. Ich könnte mir durchaus eine Sperrklausel vorstellen, die sich etwa um die drei Prozent bewegte oder auch halbiert würde.
Unbestreitbar „relevante“ Gruppen wie etwa das Bündnis 90 hätten aber auch mit einer Drei-Prozent-Hürde keine Chance. Wie wird man ihrem Anspruch auf eine Chance, ins Parlament zu kommen gerecht?
Von Verfassungs wegen gibt es kein Bedenken dagegen, die Sperrklausel aufzuheben. Das Grundgesetz gebietet ja keine Sperrklausel; es erlaubt sie nur. Eine andere Lösungsmöglichkeit bestünde darin, Gruppierungen den Einzug ins Parlament zu gestatten, wenn sie in einer besimmten Zahl von Wahlkreisen einen ansehnlichen Stimmenanteil erreicht haben. Meine politische Präferenz jedenfalls liegt in einer möglichst geringen Behinderung des politischen Formationsprozesses in der DDR durch das Wahlrecht. Kommt es zu einer Sperrklausel, gleich welcher Höhe, wird sie zweifellos den Prozeß der Parteienkonzentration beschleunigen. Das halte ich, nachdem der Pluralismus in der DDR nicht viel älter als ein halbes Jahr ist, für verfrüht.
Lassen wir die Besonderheiten dieser Wahl einmal außer Acht: Ist eine Sperrklausel wirklich so unabdingbar, wie dies behauptet wird?
In der Wahlforschung wird behauptet, daß sich das Parteiensystem in der Bundesrepublik auch ohne Sperrklausel nicht anders entwickelt hätte. Meines Erachtens wird dabei der Abschreckungseffekt, der von der Sperrklausel ausgeht nicht genügend berücksichigt. Unter den Bedingungen einer starken Parteienkonzentration, wie wir sie in der Bundesrepublik erfahren haben, ist es für Newcomer außerordentlich schwer, Fuß zu fassen. Damit sinkt gleichzeitig die Herausforderung für die etablierten Parteien. Diese können vor neuen Konkurrenten verhältnismäßig sicher sein. Parteienkonkurrenz ist aber eines der wichigsten Mittel, die politischen Parteien in Kontakt mit den Sorgen und Bedürfnissen der Bevölkerung zu halten und zu verhindern, daß sie sich gegen wichtige politische Themen abschotten. Das spricht für eine Belebung der Parteienkonkurrenz und gegen wahlrechtliche Sperrklauseln. Aber es darf auch kein durch die große Zahl von Parteien in die Instabilität getriebens Regierungssystem geben, weil in diesem der Einfluß des Volkes auf die Politik tendenziell abnimmt und der bürokratische Einfluß wächst. Zwischen diesen beiden Polen muß ein sinnvoller Ausgleich gefunden werden.
Gegen die Abschaffung der Sperrklauseln werden immer wieder die Erfarungen der Weimarer Republik ins Feld geführt...
Die Weimarer Repubblik hat wegen der Vielzahl und Kompromißunfähigkeit der Parteien tatsächlich unter höchst unstabilen Verhältnissen gelitten und ist daran schließlich zugrunde gegangen. Der Bundesrepublik ist diese Instabilität glücklicherweise erspart geblieben. Es hat nicht nur eine rasche Parteienkonzentration eingesetzt, die Parteien sind in ihrer Tendenz zu umfassenden Volksparteien auch weitaus kompromißfähiger. Unter diesen andersartigen Zuständen leistet man nicht Weimarer Verhältnissen Vorschub, sondern stärkt den demokratischen Prozeß, wenn man zu einer begrenzten Auflockerung des Wahlrechts rät.
Interview: Ferdos Forudastan
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