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Die Sowjetunion zerfällt von innen

■ In Moskau, Leningrad und Kiew regiert die Opposition / Harte Auseinandersetzungen in den Stadtsowjets / Streit um Kontrolle der Medien / Fernsehbesetzung in Leningrad / Aufruf der ukrainischen Regierung an die „werktätige Bevölkerung“ gegen Nationalismus

Berlin (taz) - Nicht nur die Rufe nach Unabhängigkeit der nicht-russischen Republiken beunruhigen die Moskauer Zentralmacht. Auch die politischen Verhältnisse auf kommunaler Ebene nagen zunehmend an der Stabilität der Union. Seitdem in den drei größten Städten der UdSSR Moskau, Leningrad und Kiew - die Opposition die Kommunalwahlen gewann, entgleitet der Partei die Kontrolle über das Land.

Amtierender Bürgermeister Moskaus ist immer noch Waleri Saikin, der seit dem 3. Januar 1986 auf seinem Stuhl sitzt. Aussichtsreichste Anwärter zur Amtsübernahme sind der 35jährige Historiker Sergej Stankewitsch, Vertreter der Moskauer „Volksfront“, und der Professor für Ökonomie Gavril Popov, führendes Mitglied des linken Blocks „Demokratisches Rußland“. Dieser Block hat im Stadtsowjet mit 281 von 463 Abgeordneten die Mehrheit inne.

Am Montag trat der Rat zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen und wählte flugs die Konservativen aus der KPdSU von allen Kontrollfunktionen ab. Die beklagten sich wortgewaltig über die neue „Diktatur“ und zogen geschlossen aus dem Saal. Draußen demonstrierten die Nationalisten der „Pamjat“, Flüchtlinge aus Armenien, Aserbaidshan und den zentralasiatischen Republiken, und auch schon Unterstützer der Anwälte Gdljan und Iwanow in Vorbereitung auf die große Solidaritätsdemo vom Dienstag.

Die schon fast täglichen Kundgebungen für die beiden Anti -Korruptions-Helden beherrschen das politische Klima. Aber auch andere Fragen sind unbeantwortet: Was passiert mit der Moskauer Presse? Und dem Fernsehen? Und wie geht man mit dem zunehmend mißtrauischen Parteiapparat um?

Diese letzte Frage ist besonders aktuell, seitdem der frischgewählte Stadtsowjet in Leningrad entdeckte, daß die Partei das Statut der Leningrader 'Prawda‘ verändert hatte. Sie ist nicht mehr Organ der Partei und des Rats, sondern nur noch der Partei. Der Rat sitzt nun ohne Zeitung da. Auch das Statut des Regionalfernsehens war verändert worden. Es ist nicht mehr Eigentum der Stadt, sondern ist nunmehr Filiale des zentralen Sowjetfernsehens. Dies regte die neuen Stadträte so auf, daß einige dutzend von ihnen das Fernsehgebäude vor zwei Wochen kurzerhand besetzten und damit die Ausstrahlung eines Enthüllungsprogramms des Anwalts Iwanow erzwangen. Innerhalb des Leningrader Rates gibt es inzwischen vier verschiedene Fraktionen, allesamt mit Mitgliedern der KPdSU - eine einheitliche kommunistische Fraktion kam nicht zustande.

Auch in den Städten der Ukraine regt sich zunehmend Eigenständigkeit. Im Stadtsowjet der Hauptstadt Kiew verfügt die Nationalistenbewegung „Ruch“ über die Mehrheit. In Lemberg besetzt „Ruch“ sogar 90 Prozent der Ratssitze. Dort machte die Rückgabe der Hauptkirche der Stadt an die Gemeinde der bis vor kurzem illegalen Unierten Christen Furore. Angesichts des erwachenden Nationalismus hat die Regierung der Ukrainischen SSR jetzt in einem „Aufruf an die werktätige Bevölkerung“ die Einhaltung der sowjetischen Verfassung in der Ukraine verlangt. Ansonsten würde es „entschlossene Maßnahmen“ geben.

D.J.

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