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■ Die SPD weiß nicht, wohin sie will – nur schnell, schnell muß es gehenChaoten im Kabinett

Um angeblichen oder auch wirklichen blinden Aktionismus der Linksradikalen anzuprangern, wurde ihnen in den 70ern der Schandhut „Chaoten“ aufgesetzt. Der Begriff geriet zwischendurch, mit dem Triumph linker Realpolitik, außer Mode. Jetzt wäre es an der Zeit, ihn zu reaktivieren. Und zwar für die Superrealisten und -taktiker der Sozialdemokratie.

Innerhalb weniger Monate hat sich eine komplette Umkehr öffentlicher Wahrnehmung ereignet. „Nach Magdeburg“ galten die Grünen als tendenziell politikunfähig. Jetzt sind sie im Handumdrehen zu Musterknaben der Berechenbarkeit avanciert. Den SPD- Größen aber geht das Wort von der „Nachbesserung“ dessen, was sie ursprünglich vertraten, ebenso flüssig von den Lippen wie vordem der „Politikwechsel“.

Die „Ereignisse“ um die Neuregelung der 620/520-DM-Jobs und die Erhöhung des Kindergeldes bieten erschreckendes Anschauungsmaterial. Der Kanzler, der Finanzminister, die mit der Koordinierung beauftragte stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD, die SPD-Ministerpräsidenten, sie alle widersprechen teils sich selbst, teils der Bundesregierung. Gewiß, die Materie ist in beiden Fällen kompliziert, divergierende Interessen müssen auf einen Nenner gebracht werden. Nur: All das hätte leicht vorher bedacht und ausgehandelt werden können. Tatsache aber ist, daß eine Präsidiumssitzung der SPD, auf der beispielsweise die sozialdemokratischen Länderchefs ihre Bedenken hätten einbringen können, nicht stattgefunden hat. Wenn es ein politisches Talent gab, das Schröder vor der Wahl einmütig zugestanden wurde, so seine Fähigkeit zum ausgleichenden Gespräch, zur geschickten Konfliktauflösung vor der Entscheidung. Wer aber abtaucht, kann schlecht moderieren.

Schröder hat sich mittlerweile beeilt, in seinem Hausblatt, der Woche, Selbstkritik zu üben. Man habe zu schnell zu viel in Angriff nehmen wollen, habe dem Erwartungsdruck der Wähler nachgegeben. Merkwürdig: Im Startprogramm der SPD war zum Beispiel von den 620-DM-Jobs nicht die Rede, und noch das Koalitionsprogramm spricht nur generell von Mißbrauchsbekämpfung. Nicht veränderungsgeile Wähler sind verantwortlich für das SPD-Chaos, sondern eine Parteiführung, die sich um jeden Preis als dynamisch und entscheidungsfreudig präsentieren will. Sie hat die Sorgfalt der Image-Produktion geopfert. Hätte man sich nur an Tony Blair gehalten und den Politikwechsel mit zwar kontroversen, aber in ihren Konsequenzen klaren Projekten eingeleitet. Aber von Blair lernen hieß für Schröder stets nur, Techniken der Selbstdarstellung zu übernehmen.

Zwar wissen wir von der SPD seit langem, daß ihr die Bewegung alles, das Ziel nichts ist. Dann sollte sie aber auch den schönen, alten Satz der Kriegskunst beherzigen, der da lautet: „Hektik ist der Todfeind der Bewegung.“ Noch sind die hundert Tage Schonfrist, die die Konvention jeder neuen Regierung, nicht aber Schröder sich selbst gönnt, nicht verstrichen. Deshalb der Ratschlag: Durchatmen und zu Clausewitz greifen. Christian Semler

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