: Die Reime sind zerfallen
„Wer durch mein Leben will, muß durch mein Zimmer“: Thomas Braschs Lyrik erzählt von Aufbau und Zerstörung
„Ja, klar“, höre ich mich selbst antworten, als der Literaturredakteur mich fragt, ob ich den kürzlich erschienenen Gedichtband von Thomas Brasch „Wer durch mein Leben will, muß durch mein Zimmer“ rezensieren will. Nur – wer, bitte, ist Thomas Brasch?
Ich bin nicht ganz allein mit meiner Unkenntnis: Der Buchhändler gibt verzweifelt „Barsch“ und „Bratsch“ in seinen Computer ein, das Suchsystem der hiesigen Universitätsbibliothek zeigt „Kein Treffer“ an, und Germanistik-Kommilitonen schütteln die Köpfe: „Thomas Brasch? Unbekannt.“ Kann ja nicht so toll sein und auch nicht so bekannt. Dann weiß ich mehr: Thomas Brasch hat im Laufe seines Lebens eine Vielzahl an Theaterstücken, Prosa- und Gedichtbänden hervorgebracht, für die er etliche Literaturpreise gewann, er war bis zu seinem Tod im letzten Jahr schriftstellerisch tätig, und schon die ersten Gedichte, die ich lese, sind toll.
„Wer durch mein Leben will, muß durch mein Zimmer“ ist eines dieser Bücher, die „auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord“, wie Kafka schrieb. Die etwa 150 Gedichte aus dem Nachlass des Autors sprechen weder in Themen noch Formen eine einheitliche Sprache, sie erzürnen, erfreuen und bestürzen in wenigen Worten oder über mehrere Seiten, in Reimen oder ungereimt, doch ist ihnen allen gemeinsam, dass man während des Lesens nicht gleichgültig bleiben kann. Von Liebe und Hass, Aufbau und Zerstörung, Selbstaufgabe und Auflehnung und „Angst immer. Vor allem und vor jedem“ wird gesprochen. „Wieviel mehr bin ich als meine Gedichte / als meine Stücke, Lieder und Worte / Tausendmal mehr bin ich als meine Berichte / und trommle mir stumm an die Brust, meine knöcherne Pforte“: Da hat jemand sein Leben lang hart mit der eigenen Zerrissenheit gekämpft, mit der Diskrepanz zwischen „sehr viel wollen“ und vermeintlich „wenig können“. Viele seiner Gedichte sind Freunden, Bekannten oder Schriftstellern gewidmet. So begegnen einem Heine, Brecht, Heiner Müller und auch Fritz J. Raddatz und Katharina Thalbach, die als langjährige Freunde des Autors seine Gedichte aus dem Nachlass herausgegeben haben.
Blickt man auf die Biografie des Autors Thomas Brasch, so scheint sich auch dort seine Zerrissenheit zu manifestieren. Er, der 1945 als Sohn jüdischer Emigranten im englischen Exil geboren wurde und ab seinem ersten Lebensjahr in der DDR lebte, sah sich schließlich nach Zwangsexmatrikulationen, Gefängnisaufenthalt und großen Publikationsschwierigkeiten gezwungen, mit 31 Jahren nach Westberlin überzusiedeln. „Mein einziges Leben ist zwischen zwei Ländern: / das dauert, so lange leben dauern kann, / mein einziges Leben heißt wie kann ich ändern / diese einzige Welt, diese einzige Stadt, diesen einzigen Mann?“ Eine einseitig auf seine Biografie reduzierte Deutung, wie sie wohl Braschs Roman „Vor den Vätern sterben die Söhne“ Ende der 70er-Jahre erfuhr, wird jedoch der Fülle seiner Motive nicht gerecht: „Glaube nicht, wenn sie dir sagen / ich hätt all diese Bitternis / aus den andren deutschen Tagen / aus dem andren deutschen Riß.“
Es liegt eine schmerzhafte Schönheit in seinen fast rohen Gedichten, am stärksten dort, wo sie nur Bruchstücke sind. Das Kapitel „Varia“ vereint unfertige Arbeiten des Autors. Die dort zum Teil in zwei oder drei Varianten abgedruckten Gedichte ermöglichen einen Einblick in die Arbeitsweise des Autors, die trotz des anklingenden Kampfs mit den Wörtern mitunter fast verspielt wirkt. Thomas Braschs Form ist das Fragment: „Nichts, nichts, nichts ist geschafft“, heißt es in einem Gedicht, „von meinen Plänen gewaltig der Welt / ein großes Leben aus den Adern reißen.“ TINA GINTROWSKI
Thomas Brasch: „Wer durch mein Leben will, muß durch mein Zimmer“. Hg. von Fritz J. Raddatz und Katharina Thalbach. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2002, 120 S., 16,90 €