: Die Reichen müssen abspecken
Mit Appellen ist kaum Bewußtsein für andere Lebensweise in Industrieländern zu erzeugen / Konferenz über „tragfähige Konsum-Entwicklung“ ■ von Reinhard Wolff
Stockholm (taz) – Ökonomisches Wachstum in Europa und anderen Ländern der „reichen“ Welt vergrößert die Armut in weiten Teilen der übrigen Welt. „Unabhängig davon, wie umweltfreundlich unsere Industrien produzieren und welche umweltfreundlichen Produkte wir kaufen, tragen wir mit jedem Wachstum im Norden negativ zur globalen Verteilungssituation bei.“ Eine Binsenwahrheit innerhalb der ökologischen Diskussion, doch diese Feststellung führte in dieser Woche in Norwegen zu einem politischen Erdbeben. Denn derjenige, der sie aussprach, ist für seine deutliche Sprache bekannt und hat auch schon mal den britischen Umweltminister als Drecksack bezeichnet. Thorbjörn Berntsen, Umweltminister der Regierung Brundtland, empfahl seinen westlichen Politiker-KollegInnen bei der Eröffnung einer zweitägigen internationalen Konferenz über „tragfähige Konsum-Entwicklung“ mit aller Deutlichkeit, erst einmal vor der eigenen Haustür zu kehren und vom nach wie vor verherrlichten Wachstumsbegriff abzuzrücken.
Die Reaktion war exemplarisch. Seine eigene sozialdemokratische Partei und der Gewerkschaftsdachverband LO warfen Berntsen vor, sich außerhalb des Programms der norwegischen Arbeiterbewegung gestellt zu haben, in dem weiter die Wachstumsideologie hochgehalten wird. Der Aufruhr war so groß, daß nächste Woche eine Fragestunde im Parlament zu diesem Thema stattfinden wird, wo die Regierung erklären soll, wie sehr sie noch hinter Berntsen steht. Denn dieser scheint entschlossen, den einmal aufgehobenen Faden nicht so schnell fallen zu lassen: Die Gewerkschaften hätten im Jahrhundert der Industrialisierung eine wichtige Rolle gespielt. Für das bevorstehende Jahrhundert stehe eine neue Periode an, für die die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie sich um andere Ansatzpunkte für ihre Politik als das industrielle Wachstum bemühen müßten. „Eine Partei und eine Gewerkschaft, die sich solidarisch nennt, muß gegen ein weiteres Wachstum auf der Nordhalbkugel kämpfen“, so der norwegische Umweltminister. „Eine Bewegung, die für zusätzliches Wachstum und Konsum in den Industrieländern kämpft, ist keine progressive Bewegung mehr.“
Neue Erkenntnisse bezüglich der Überkonsumtion der Ressourcen brachte die Konferenz jedoch nicht. Aber sie faßte die verschiedenen drohenden Entwicklungsszenarien treffend zusammen. Die Lebensmittelproduktion wird trotz wachsender Bevölkerungszahl weltweit weiter sinken – vor allem was die wichtige Reisproduktion angeht. Fruchtbare Böden in einer Größenordnung der gesamten Ackerfläche Indiens seien in letzten zwanzig Jahren verlorengegangen; immer mehr Meeresgebiete sind überfischt, immer mehr Fischsorten wurden ausgerottet; die Wälder werden weltweit völlig überbewirtschaftet. Würden alle Menschen soviel Toiletten- und Haushaltspapier verbrauchen wie die SchwedInnen und NorwegerInnen, wären allein davon die Wälder der Erde in zehn Jahren restlos abgeholzt. Eine taz für alle auf der Welt – und die Wälder stünden gerade noch drei Jahrzehnte.
In zwei Jahrzehnten hat sich der Privatkonsum in den reichen Ländern auf ein vorher für unmöglich gehaltenes Niveau hochgeschraubt, während sich die Zahl der von Armut betroffenen Menschen auf 1,2 Milliarden mehr als verdreifachte. Eigentlich sollte die Osloer Konferenz Strategien für eine weniger umweltschädliche Lebensweise entwickeln, die im Mai der UN-„Kommission für bestandfähige Entwicklung“ präsentiert werden sollen. Doch konkrete Rezepte blieben in den Ansätzen stecken. Es bestand zwar Einigkeit darüber, daß die Weichen umgelegt werden müssen, aber nur in wenigen Teilbereichen liegt dafür ein umsetzbares Programm vor. In zwanzig bis dreißig Jahren werden zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben. Für sie und die künftigen Generationen müßte der Ressourcenverbrauch und der Abfallanfall so reguliert werden, daß auch in Zukunft Leben auf der Erde möglich bleibt. Und schließlich: Ein Grad höchstmöglicher Gleichheit für alle Menschen sei anzustreben, so der Tenor.
Es genügt einfach nicht, so die Botschaft aus Oslo, nur die verschiedensten Ressourcen zu kartieren. Ausgehend von kulturellen, religiösen, politischen und wirtschaftlichen Vorstellungen muß darüber hinaus ein Bewußtseinsprozeß in Gang gebracht werden, in welcher Gesellschaft wir im „reichen“ Teil der Welt leben – woher sich ein Teil der Menschen das Recht nimmt, auf Kosten des großen Rests die Erde zu plündern. Ohne den einen oder anderen Schritt zurück, darin war sich die Konferenz einig, werde die angepeilte Tragfähigkeit nicht zu erreichen sein. Gemeint ist dabei keineswegs eine Rückkehr zu vergangenen Produktionsformen, sondern eine Neubewertung von Zeit, Arbeit, Konsumtionsmustern und technischen Möglichkeiten.
Patentrezepte wurden in Oslo freilich nicht präsentiert. Was die Überfischung der Meere und den Papierkonsum angeht, mußten sich gleich die GastgeberInnen an die eigene Nase fassen, ohne auch nur mittelfristig politisch durchsetzbare Lösungsansätze präsentieren zu können. Die Zerstörung der Böden kann nur in Zusammenarbeit mit den Bauern in der Dritten Welt gestoppt werden. Über die Ursachen der Zerstörung der Wälder sind schon halbe Bibliotheken geschrieben worden. Ist das, was als schlimme Wirtschaftskrise ganz oben auf der Liste politischer Probleme der industrialisierten Welt steht, vielleicht ein Schlüssel dafür, zu mehr „Tragfähigkeit“ im Konsumverhalten zu kommen? Die Meinungen gehen auseinander: Die wachsende Arbeitslosigkeit und tendenzielle Verarmung in den „reichen“ Ländern auf diese Art ins positive Licht zu setzen, sie geradezu zynisch, sagen die einen. Darüber zu einem anderen Verhältnis zur Arbeitszeit, Produktion und mangels Kaufkraft auch zur Konsumtion zu gelangen, sei durchaus ein überdenkenswertes und das einzig erfolgversprechende Rezept, lautete die Gegenthese. Ein in den USA geborenes Baby, so ein Beispiel von Berntsen, werde die Erde in seinem Leben vermutlich 280mal stärker belasten als ein Kind, das in Haiti zur Welt komme und dort leben werde. Die Welt, so Gastgeber Thorbjörn Berntsen, sei „zu komplex, zu groß und zu unübersichtlich“, um zu versuchen, allein mit Zahlen und Appellen ein Bewußtsein für eine andere Lebensweise in der industrialisierten Welt schaffen zu wollen. Falls die Debatte auf dem abstrakten und wenig praktischen Niveau wie bisher weitergehe, sei die Welt in Zukunft ernsthaft bedroht. Berntsens Vorschlag: Drei, vier reiche Industrieländer sollten sich mit ebenso vielen „Mitte-Klasse-Staaten“ und „armen“ Ländern zu einer Art „Mini-Welt“ zusammenschließen: „Eine Gruppe von zehn, zwölf Ländern kann untereinander vielleicht leichter ein Modell des Ausgleichs entwickeln, als es auf globaler Ebene möglich ist.“ Neue übergreifende Allianzen sind also künftig gefragt und nicht das alte Blockdenken.
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