: Die Reichen am Abgrund
Hört auf mit den täglichen Schreckensszenarien für dieses Land. Der Niedergang von Opel & Co ist zwar schlimm, wirklich schlimm. Aber bedeutet er das Ende für Deutschland? Nein, wirklich nicht
VON REINER METZGER
Opel-Schock, Karstadt-Angst, Lektion für Deutschland, schwarzer Tag und was nicht alles mehr: Derzeit täglich werden ellenlange Abzählreime über dieses Land gebildet mit solchen Schlagzeilen, und jeder Vers gerät düsterer als der letzte. Über das Stadium „durch das Land muss ein Ruck gehen“ sind wir längst hinaus. Jetzt geht es darum, die anscheinend bald überall sprießenden Slums vorzuplanen, ja gar Deutschland, den kranken Mann von Europa, in Würde sterben zu lassen, sich zu verabschieden aus der Riege der Industrieländer.
Plant schon mal die Slums
Die Globalisierungshunnen stehen vor den Toren und keiner hilft uns. Die treten alle noch nach, die anderen Abendländer und historischen Verbündeten: Die Polen arbeiten billiger, die Franzosen spionieren unsere Betriebe aus und die Amis kürzen einfach alle unsere Arbeitsplätze weg. Unsentimental wie der Ami so ist – im Gegensatz zum gefühl- und rücksichtsvollen Deutschen.
Wem es noch nicht aufgefallen ist: Es ist Schwachsinn, zumindest in dieser übersteigerten Form. Und es ist Propaganda. Wer will, kann das Land ganz im Gegenteil auch hochjubeln. „Deutschland ist Weltmeister!!“ Oder zumindest Vize.
Das statistische Bundesamt zum Beispiel ist so eine Jubelmaschine: „Deutsche Industrie mit kräftigem Umsatzplus“ melden die Bundesstatistiker gestern ganz aktuell. Im August ging die deutsche Industrieproduktion um mehr als 10 Prozent nach oben, sowohl die Umsätze im In- wie auch im Ausland stiegen. Die Autohersteller liegen ganz vorn mit einem Plus von über 17 Prozent. Da reden die von Krise.
Übers Jahr gerechnet und über alle Branchen sind es bisher nur plus 5,4 Prozent. Aber immerhin. Ein größeres Bundesland dürfte immer noch mehr produzieren und Profit erwirtschaften als die meisten Staaten der Erde.
Klar, das Bundesamt meldet im gleichen Atemzug: Die Lohn- und Gehaltsumme stieg nur um 0,1 Prozent (und macht laut Bundesamt auch nur 16 Prozent des Umsatzes aus, liebe Stellenstreicher). Und die Zahl der Beschäftigten in der Industrie lag im August mit gut 6 Millionen um 1,7 Prozent unter dem Vorjahr. Das sind über 100.000 verlorene Jobs in der Produktion innerhalb eines Jahres. Aber das Ende ist das noch nicht.
Das Land der Reichen
Und es gibt eine Propaganda, die nicht gesungen wird: die Saga des Landes der Reichen. Wer die wenigen versprengten Zahlen zur wirtschaftlichen Elite in Deutschland sammelt, wird zum enthusiastischen Optimisten. Unternehmer und Vermögende konnten ihre Nettoeinkommen zwischen 1990 und 2002 real – also schon nach Abzug der Inflation – um knapp 50 Prozent steigern. Bei den Arbeitnehmern hingegen stagnierten die Nettoeinkommen im gleichen Zeitraum.
Und es gibt ja nicht nur die Spitze in den Wolken, die Schicht der 750.000 Millionäre im Land. Die Etage eins drunter sorgt auch für Rekordgewinne bei BMW, Mercedes oder Porsche, bei französischen Luxus- und italienischen Modekonzernen.
„Der Handel kämpft ums Überleben“, stand gestern in einer renommierten Zeitung angesichts der Krise von KarstadtQuelle. Warum? Weil Jesus wieder auf die Erde niederkommt und die Händler aus dem Tempel treibt? Die Endzeitstimmungsmacher mögen es bedauern, aber der Heiland ist nicht in Sicht. Nur weil ein verranzter Kaufhauskonzern mal ein paar Jahre keine Profite macht, werden die Menschen nicht aufhören, durch Handel ihre Bedürfnisse zu befriedigen.
Bei all dem wirren Argumentieren gehen die eigentlichen Fragen verloren. Nach dem Zweiten Weltkrieg profitierten die Deutschen vom Welthandel mehr als die meisten anderen Länder. Seit einigen Jahren haben wir Probleme mit einer sich wandelnden Welt. Aber die haben fast alle Länder, seit tausenden von Jahren. Also zurück zu den Fakten. Deutschland ist das drittgrößte Industrieland der Welt und entsprechend viel gibt es zu verteilen.
Die deutsche Frage
Und genau das sollte die Frage sein, die „Lektion für Deutschland“: Wie wollen die Bürger die hunderte von Milliarden Euro verteilen, die der Staat alljährlich in Form von Steuern einsammelt? Weiter wie bisher in die großen Töpfe Zinszahlungen an Vermögende (offiziell „Schuldendienst“ genannt), in Rente, Arbeitslosen- und den Gesundheitssektor?
Keiner hat eine fertige Antwort, wie die Arbeitslosen weniger, der Staat schlanker und die Jungen wieder schlauer werden. Aber diskutieren über konkrete Vorschläge wäre doch schon nicht schlecht. Ideen sammeln statt Katastrophenszenarien wäre doch auch mal ein schönes Hobby.
Lohnkosten wie in Polen
Immerhin krempeln zumindest die Arbeiter und Arbeiterinnen die Ärmel schon hoch. Wieder laut dem notorischen Statistischen Bundesamt stieg die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden in der Industrie innerhalb eines Jahres um 3,2 Prozent, obwohl die Zahl der Beschäftigten um 1,7 Prozent sank – ohne Mehrbezahlung wohlgemerkt. Wenn dieser Trend zehn Jahre anhält, hat uns Osteuropa beim Stundenlohn eingeholt.
Dann müssen nur noch die Experten auch ihren Ausstoß an tollen Einfällen und Patenten jährlich so steigern wie die Produktionsarbeiter und alles ist gut. Gut, wirklich.