■ Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers vor dem Deutschen Bundestag – Statistik und Tugend: Kohl, der Kulturkritiker
Nach zwei Wochen des Lavierens und taktischer Ausweichmanöver hat der Bundeskanzler in seiner gestrigen Regierungserklärung klar („prinzipiell“) die doppelte Staatsbürgerschaft verworfen. Was er zum Staatsbürgerrecht vorzuschlagen hat, geht im wesentlichen nicht über die „Erleichterungen“ hinaus, die nach der Novellierung des Ausländergesetzes schon jetzt gelten. Zu einem zeitgemäßen Einwanderungsrecht hat er keinen einzigen, armseligen Satz verloren. Auch zu Versprechungen für ein Flüchtlingsrecht, das den Standards der internationalen Konventionen genügen würde, hat er sich nicht hinreißen lassen. Statt dessen strotzte seine Rede vor Statistiken über eingeleitete Strafverfahren und Verurteilungen, als habe er höchstselbst die Zügel der Justiz in die Hand genommen. Reichlich floß auch Selbstlob über die finanziellen Leistungen der Bundesrepublik für Flüchtlinge und Asylsuchende. Sie seien, in aller Bescheidenheit, – gemessen an europäischen Maßstäben – unübertroffen. Das muß die Welt doch endlich zur Kenntnis nehmen!
Kohl kennt keinen Augenblick des Innehaltens, der Nachdenklichkeit, nicht einmal als Pose. Reflexartig reagiert er auf mögliche Erschütterungen seines Weltbilds mit Attacken gegen mutmaßliche und wirkliche Störer. Er ist stets beleidigt und aggressiv zugleich. Wer die türkische Regierung ohne Wenn und Aber wegen der Verletzung von Menschenrechten anklagt, handelt seiner Meinung nach in „wilheminischer Manier wie eine moralische Großmacht“. Die Linke werfe sich nach wie vor zur Monopolistin des Gerechten und Guten auf, dabei sei sie es doch, deren Einäugigkeit und deren Utopismus die totalitären Regimes solange begünstigt habe. Die Linke ist heuchlerisch und selbstgefällig, sie soll schweigen.
Was in der Gesellschaft zu Sinnverlust und bewußtlosem Konsumismus, zum Schrumpfen staatsbürgerlicher Tugend geführt habe, ist ebenfalls der Linken anzulasten – ihrer hemmungslosen Gier nach Selbstverwirklichung. Sie war es, die das verderbliche Konzept einer „Konfliktpädagogik“ ersonnen und damit tradierte Werte wie Anstand, Würde, Höflichkeit und unspektakuläres Pflichtbewußtsein zerstört hat. Diese Tugenden gilt es zu reaktivieren – durch Stärkung der Institutionen, die Gemeinsinn produzieren. Von der freiwilligen Feuerwehr bis – trotz alledem! – den politischen Parteien.
Wenn wir nur diese Trugbilder beiseite wischen, ist die Harmonie wiederhergestellt und der Bürgersinn wird triumphieren. Dann wird auch das jüngste Produkt des moralischen Absolutismus weggefegt sein – die Aufforderung zur Zivilcourage. Sie kommt in Kohls Tugendkatalog zur Bekämpfung der extremistischen Herausforderung selbstverständlich nicht vor. Christian Semler
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