: Die Rache des Alten Testaments
betr.: „Das System der Killeroppositionen“, taz vom 17. 9. 01
Das Talionsgesetz hat Hochkonjunktur: Die Boulevardblätter drucken es in dicken Lettern, und der amerikanische Präsident wird nicht müde, es zu beschwören: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (Exodus 21, 22). Die kollektive Ohnmacht einer Nation verdichtet sich im archaischen Bedürfnis nach Rache. Kleinlaut stehen die Intellektuellen daneben und erheben zaghaft ihren Zeigefinger: „So nicht! Die Zeiten des Alten Testamentes sind doch vorbei!“
Doch weder die einen noch die anderen scheinen zu wissen, dass die lex talionis nicht die Legitimation einer tumben Vergeltung und einer blutrünstigen Rache ist. In einer historischen Gesellschaft, die von Blutrache und Sippenhaft geprägt war, wirkte die meistzitierte Maxime der vergangenen Tage gerade das Gegenteil: die Begrenzung von Gewalt und die Eindämmung von Aggression. Es darf eben nach einem Mord nicht die ganze Großfamilie des Täters und nach einem Mädchenraub die ganze weibliche Linie des Entführers dahingemetzelt werden.
Doch die Geschichte scheint uns einzuholen: Was als angeblich alttestamentlich-primitive Vergeltungsdoktrin bereits in die staubigen Schubladen einer überholten Religion einsortiert wurde, wird nun – auf Hochglanz poliert – wieder salonfähig. Und ein Präsident, der noch vor wenigen Monaten die Taliban für irgendeine abgedrehte Rockgruppe hielt, hat ein neues Reich des Bösen ausgemacht. God bless America!! ANDY LANG, GEFREES
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