: Die Praxis der Galaxis
Kleine Liebesgabe von Manfred an Dorothea
VON GABRIELE GOETTLE
Manfred Grashof-Ridder, Beleuchter und Gelegenheitsschauspieler im Berliner Grips Theater, Ehemann von Dr. med. Dorothea Ridder. 1946 in Kiel geboren. Sein Vater war Schriftmaler und Grafiker. Realschulabschluss und Feinmechanikerlehre. Frühe Heirat (auf Geheiß des Vaters wg. unbeabsichtigter Schwängerung einer Freundin). Bundeswehr-Grundausbildung in Eutin, dann Freiwilliger d. Heeresflieger-Schule Bückeburg. Auf Grund des Attentats auf Rudi Dutschke desertierte er und ging nach Berlin, lebte u. a. in den Kommunen von SDS und K 1. 1969 wurde er an der Film- und Fernsehakademie Berlin angenommen (wo auch Holger Meins studierte). Nach der Befreiung von Baader Abbruch des Studiums. Er schloss sich der gerade im Entstehen begriffenen RAF an und fuhr 1970, zusammen mit Meinhof, Ensslin, Baader, A. Proll, seiner Freundin Petra Schelm, B. Asdonk, I. Goergens, Mahler und anderen, für mehrere Wochen in ein paramilitärisches Ausbildungslager nach Jordanien. Nach ihrer Rückkehr lebten die Mitglieder der Baader-Meinhof-Gruppe im Untergrund in Westdeutschland, Manfred vorwiegend in Hamburg, wo er sich um logistische Probleme kümmerte, speziell um die Fälschung von Papieren.
Anfang 1971 wurden er und Astrid Proll im Frankfurter Westend von Verfassungsschutzbeamten in Zivil angehalten, beide entzogen sich der Festnahme durch Flucht. Mitte 1971 gab es die erste Großfahndung nach RAF-Mitgliedern in ganz Norddeutschland. Dabei wurde Manfreds Freundin Petra Schelm in Hamburg von der Polizei per Kopfschuss getötet (sie wurde für Ulrike Meinhof gehalten), das war zugleich der erste polizeiliche Todesschuss bei einer RAF-Fahndung. Bald darauf, im Dez. 71 und März 72, wurden die Kieler Professorensöhne Georg von Rauch (Bewegung 2. Juni) und Thomas Weißbecker (RAF) von Polizeibeamten erschossen. Am Abend des 2. März 1972 betrat Manfred Grashof, zusammen mit Wolfgang Grundmann, seine Fälscherwerkstatt in Hamburg. Im Dunkeln wurden sie bereits von der Polizei erwartet. Es kam zu einer Schießerei, bei der Manfred und der Leiter der „Sonderkommission Baader/Meinhof“, Kriminalhauptkommissar Hans Eckhardt, schwer verletzt wurden. Eckhardt starb 20 Tage später auf der Intensivstation. Manfred überlebte. Er wurde nach dem vorzeitigen Abbruch der Krankenhausversorgung inhaftiert und in Isolationshaft gehalten. 1977 Verurteilung wegen Mordes zu lebenslanger Haft, zusätzlich zu zehn Jahren, für einen Bankraub den er nach eigenen Angaben nicht begangen hatte. Ab 1982 Kontakt zu Dorothea Ridder, reger Briefwechsel und Besuche. Am 23. März 1984 heirateten beide ohne jeden Medienrummel in der JVA Dietz vor einem Standesbeamten. Die Feier richtete der Priester u. Gefängnispfarrer Hubertus Janssen aus.
Manfred distanzierte sich bereits Ende der 70er-Jahre mehr und mehr vom „Projekt RAF“. An öffentlichen Distanzierungen anderer RAF-Häftlinge hat er nie teilgenommen. Er war auch nie bereit, mit Vertretern der Medien oder politischer Parteien zu sprechen. Er verweigerte Interviews mit Stefan Aust ebenso wie Kontaktwünsche von Antje Vollmer. 1988 Begnadigung nach 16 Jahren Haft durch den damaligen Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, Bernhard Vogel (CDU). Dorothea fand für Manfred eine Arbeit im Berliner Grips Theater von Volker Ludwig, wo er noch heute arbeitet.
Vorausschicken möchte ich hier noch Folgendes: Manfred Grashof äußert sich hier zum ersten Mal öffentlich. Alle Interviewwünsche lehnte er, wie gesagt, kategorisch ab. Der folgende Text soll daran auch nichts ändern. Er ist eine Ausnahme. Eine Liebesgabe für Dorothea Ridder.
Manfred Grashof wohnt alleine, im obersten Stockwerk eines Kreuzberger Hinterhauses. Er führt uns ein paar Treppchen hinauf zu einem paradiesischen Dachgarten, den er zusammen mit anderen vor Jahren anlegte. Gemeinsam wird das üppig blühende Refugium genutzt und gepflegt. Er stellt Saft und irischen Whiskey auf den Tisch, lächelt sanft, dreht sich eine Zigarette und beginnt dann zu erzählen:
„Kennengelernt habe ich Dorothea in der Anfangsphase der RAF, da ging es ja darum, die bereits Illegalisierten, von Haftbefehl Bedrohten, Baader, Ensslin usw., die hier in Westberlin waren, sicher unterzubringen. Also Wohnungen organisieren, bisschen Infrastruktur, aber das ging natürlich nicht ohne die Hilfe von legalen Leuten, Sympathisanten und Unterstützern. Das war sie. Dorothea, muss ich sagen, war eine gute, klandestine ‚Mitarbeiterin‘. Ich habe sie damals flüchtig kennengelernt und gleich wieder aus den Augen verloren. Dann kam ja auch ihre Festnahme. Ich war zu der Zeit in Westdeutschland im Untergrund – wir gingen zu dieser Zeit alle irgend wann nach Westdeutschland. Westberlin haben wir dem 2. Juni überlassen. So war das.
Wieder gesehen haben wir uns erst viel später. Da war ich schon zehn Jahre im Knast. Sie war inzwischen längst wieder legalisiert und hatte ihre Arztpraxis, glaube ich, schon. Wir hatten all die Jahre überhaupt keinen Kontakt, der kam erst wieder über Astrid Proll zustande, kann das sein? Über ihren Prozess? Eines Tages jedenfalls stand Dorothea vor den Gefängnistoren, natürlich mit Voranmeldung. Wir haben uns viel geschrieben und uns kennengelernt. Irgendwann kamen wir auf die Idee, dass wir heiraten. Das war übrigens vollkommen unabhängig von irgendwelchen taktischen Erwägungen, muss ich sagen, nicht vorteilsmäßig. Da war auch noch gar nichts in Sicht von einer eventuellen Begnadigung. Das war überhaupt kein Thema damals! Wir wollten es einfach. Und ‚gesponsert‘ hat uns mein damaliger superliberal-katholischer Knastpfarrer, Hubertus Janssen. Der hatte hauptberuflich eine Kirchengemeinde in Dietz und er hat Dorothea auch immer aufgenommen, wenn sie mich besucht hat. Also solche Leute gibt’s wahrscheinlich immer seltener. Er lebt noch, ist aber kein Knastpfarrer mehr.
Also der hat uns sehr gefördert. Und bei der Trauung, da kam dann morgens ein Standesbeamter. Ich durfte sogar einen Anzug anziehen. Den hat mir übrigens Erich Fried schicken lassen, den hat er mir gekauft für diesen Anlass. Er meinte, ein Anzug muss sein! Er hat mich auch besucht zu dieser Zeit. Das lief alles über Dorothea. Immer wenn er in Deutschland oder in Berlin war, war Dorothea seine Ärztin. Er war ja schwer krebskrank, hat immer so ein Ding mit sich rumschleppen müssen … Er hat mich trotzdem ein paarmal besucht, hat sogar eine Lesung veranstaltet im Knast, wieder mit Hilfe von Hubertus Janssen. Also ich hatte den Anzug an und sie irgendwas Indisches. Ich habe sogar ein Foto. Und vorher haben wir auch noch, in letzter Sekunde, mit einem Notar eine Regelung getroffen wegen Gütertrennung. Sie war ja praktizierende Ärztin, also das war schon besser so. Und anschließend gab es eine Feier mit Kaffee und Kuchen und Kinkerlitzchen, alles von Hubert organisiert. In seinem Pfarrbüro im Knast.
Zu der Zeit war ich 38, hatte 13 Jahre abgesessen und vielleicht noch weitere 12 bis 15 Jahre vor mir. Das wusste ja kein Mensch. Dass es dann anders kam, war für uns ganz überraschend. Als Erster kam Jünschke raus, da hatten der Hubertus und die anderen ja auch mit dran geschraubt, an seiner Begnadigung. Und dann kam ich auch dran, ein Jahr später. Regulär bin ich schon am 2. März 1989 entlassen worden. Und dann wollten die mich ja partout nicht nach Berlin entlassen. Aber ich hatte drei Pluspunkte: Meine Tochter war damals von Kiel nach Berlin gezogen, Dorothea, meine Frau, lebte in Berlin als niedergelassene Ärztin, und ich hatte einen Job in Aussicht am Grips Theater. Es ging ja um Resozialisierung. Damals wurde das teilweise noch ernst genommen. Inzwischen ist das nur noch Makulatur. Der Arsch hat ihn ja nicht begnadigt, den Klar, obwohl Peymann ihm am Berliner Ensemble eine Stelle angeboten hat. Von März 88 bis 89 war ich dieses eine Jahr im Freigängerhaus, im Süden von Berlin, in Zehlendorf. Ich brauchte ja ein bisschen eine Angewöhnung an das Leben, das ja vollkommen anders geworden war. Tagsüber habe ich am Theater gejobbt und musste nachts wieder drin sein. An den Wochenenden war ich dann meist in Nikolassee bei Dorothea. Und dann haben wir auch mal so ein paar Kurzferien gemacht übers Wochenende, als es dann möglich war. Und ich weiß noch, wie wir mal für ein paar Tage auf die Insel Amrum fahren wollten und nie ankamen. Wir fuhren aus Hamburg raus, Richtung Nordsee, im Spätherbst. Das Autoradio war an und plötzlich hören wir die Nachricht vom Tod von Erich Fried. O Mann, hat uns das umgehauen! Wir mussten anhalten. Er war irgendwie bei einer Lesetour in Baden-Baden – ja, es lag schon in der Luft. Wir waren vollkommen fertig. Drüben habe ich noch den Anzug liegen, den er mir zur Hochzeit gekauft hat. Nee, also Dorothea war eine ganz Zuverlässige, immer! Auch belastbar, wie man damals gesehen hat, sie ist ja dann auch dafür in den Knast gegangen. Und hat auch nichts irgendwie ‚bereut‘. Sie hat ihr Ding gemacht, hat ihr Studium durchgezogen, ist Ärztin geworden und war trotzdem da. Das ist total anerkennenswert. Sie ist eine integre Person, und das ist ja eigentlich auch diese verdammte Ungerechtigkeit, ihr weiteres Schicksal dann, dieser Scheißschlaganfall! Und jetzt die epileptischen Anfälle und alles …
Nach meiner Entlassung, um jetzt noch mal anzuknüpfen, bin ich dann natürlich bei ihr eingezogen. Erst mal. In Nikolassee war die Situation, die ich vorfand, etwas schwierig. Sie hat natürlich, während ich im Knast war, draußen ihr eigenes Ding gemacht. Hat mir das natürlich auch nicht alles unbedingt aufs Brötchen geschmiert, aber von Anfang an war klar, dass da ein anderer war. Der berühmte Andrew, der sich heute nicht mehr blicken lässt bei ihr, obwohl er zehn Jahre lang ihr Lebensgefährte war, und sie ihn protegiert hat von vorn bis hinten. Und dann hat er eine brasilianische Tänzerin kennengelernt … Na gut, ehrlich gesagt, ich hab’ gut reden. Ich bin auch nur selten draußen bei ihr … Jedenfalls draußen in Nikolassee mit uns dreien, das ging mir tierisch auf den Senkel. Ich hab’ sie total verstanden. Aber ich habe ihr gesagt, Dorothea, ich ziehe mich diskret zurück. Das sieht sie ja heute anders. Sagt, ich hätte sie verlassen. So ein Quatsch! Ich bin einen Schritt zur Seite gegangen und bin meine eigenen Wege gegangen. Ich dachte, was soll ich denn da? Was soll ich mit der ganzen Natur? Ich wollte richtig ins Leben. Natürlich habe ich immer noch den Kontakt gehalten.
Ein anderes Problem war auch die Praxis, das hat mich manchmal zur Weißglut gebracht. Also Dorothea war, das muss ich mal sagen, auch schon vor ihrem Schlaganfall eine sehr komplizierte, manchmal durchgeknallte Person. Es gab einen Running Gag zu ihrer florierenden Praxis am Nollendorfplatz, die hieß in Insiderkreisen „Die Praxis der Galaxis“. Sie hat sich da vollkommen überfordert, zwölf Stunden am Tag und mehr. Am Anfang habe ich versucht, mich da irgendwie einzuklinken, helfend! In irgendeiner Form. Das war eine reine Frauen-WG, wenn man so will – die Assistentinnen könnten euch sicher viel erzählen! Eine hieß, glaube ich, Renate, die war von Anfang an dabei. Leider habe ich den Kontakt verloren. Ich hab’ ja schon im Knast eine Menge von Dorotheas Arbeit mitbekommen. Nicht, dass wir dauernd darüber geredet hätten, aber ab und zu hat sie mal was erzählt. Ich erinnere mich an eine Patientin, die Frau war Chefstewardess, in den Dreißigern, und hatte einen unheilbaren Unterleibskrebs. Sie war von allen Ärzten aufgegeben und gerät in die ‚Praxis der Galaxis‘ von Dorothea. Und ich sag’s mal kurz – die Frau lebt heute noch! Dorothea hat sie geheilt. Nach meiner Entlassung habe ich die Frau kennengelernt, ihr Mann war Optiker, oben auf der Uhlandstraße. Da war ich jahrelang noch treuer Kunde mit meinen Brillen. Aber ist das nicht erstaunlich? Dorothea hatte solche Erfolgsgeschichten, sie hatte eine große therapeutische Fähigkeit zum Heilen. Fragt mich nicht wie, Schamanismus, oder was weiß ich. Die Praxis war jedenfalls immer voll. Und da ging’s zu wie in einem Taubenschlag. Die Patienten waren vollkommen gemischt. Sie hatte auch totale Underdogs, nicht nur die, die auf Droge waren. Ihr müsst euch vorstellen, sie sagt: Du, ich habe da jetzt so einen, den muss ich Weihnachten bescheren, der hat keinen Menschen. Ich sag’: Wie?! Ja, der kommt aus Nigeria und ist illegal und was weiß ich, ein ganz Netter. Und dann saß der zu Hause an Weihnachten. Ja, so war sie drauf. Und ob einer einen Krankenschein hatte oder nicht, das hat sie überhaupt nicht interessiert! Die Assistentinnen sind bald irre geworden. Aber die haben absolut zu ihr gehalten.
Und bei ihr traf sich natürlich die halbe schwule Szene, von der Fuggerstraße bis hin zum Nollendorfplatz. In ihrer Praxis hatte sie auch die ersten Aids-Patienten – damals war Aids noch ’ne tödliche Krankheit. Das war für mich übrigens ein Schock, ich werde aus dem Knast entlassen und bin gleich mit HIV und dem ganzen Scheiß konfrontiert – und dann fällt auch noch die Mauer! Also ich wollte gar nicht mehr leben. Nee, das war schon merkwürdig, alles. Sie hatte einen langjährigen Freund, ich glaub’, der kam aus Haiti, ein intelligenter Typ, wunderbarer Mensch. Und der ist, glaub’ ich, eines der ersten HIV-Opfer gewesen, weltweit. Also was den Infektionszeitpunkt betrifft. Der hatte den Virus schon ganz lange.“ (Aids wurde in den USA 1981 zur eigenständigen Krankheit erklärt, eine der Theorien war: Sie kam aus Haiti. Eine andere: nordamerikanische Sextouristen schleppten sie in Haiti ein. Anm. G. G.) „Das habe ich hautnah erlebt, er ist dann im Jahr darauf gestorben. Um den hat sie sich immer gekümmert. Sie war überhaupt ständig auf Achse und immer erreichbar für ihre Patienten. Dann eines Tages hat sie endlich auch einen eigenen Parkplatz gekriegt, mit Arztschild, und musste nicht immer kreisen. Sie hat sich aufgerieben, ohne Rücksicht auf die Kosten und auf sich. Gegessen hat sie auch nicht. Ich bin ins KaDeWe und habe den teuersten Henkelpott gekauft, mit Thermo und so, hab’ mir zur Aufgabe gesetzt, jetzt sorge ich jeden Tag für Essen. Koche ihr was, oder kaufe was und bring ihr das heiß hin. Sie hat es nie angerührt, nie! Keine Zeit. Das war typisch, es hat mich zur Weißglut getrieben. Aber so ist Dorothea eben. Sie hat vielen geholfen oder sogar den Weg gebaut ins Leben, auch mir. Und natürlich hat sie auch Schweine getroffen.
Da gab’s so eine böse Geschichte, fällt mir ein, damals war ich noch im Knast. Ich habe es über Briefe und Telefonate von ihr erfahren, dass sie Opfer einer Erpressung geworden ist. Irgendein Kollege wollte eine immens hohe Summe haben, sonst würde er sie wegen irgendwas auffliegen lassen. Keine Ahnung, was im Einzelnen los war. Und ich bin fast irre geworden. Bin richtig krank geworden, also nervlich. Das fiel zeitgleich zusammen mit dem sauberen Herrn Stefan Aust und seinem ‚Baader Meinhof Komplex‘. Der hat mich ja total übers Ohr gehauen, die Drecksau! Keiner hat so viel Kohle mit der RAF gemacht wie der. Damals hat er Material gesammelt für das Buch, ist rumgefahren, hat mit Leuten geredet. Ich kriegte eines Tages einen Brief von ihm in den Knast, gleich so ranschmeißerisch, duzt mich, lieber Manfred und Genosse usw., schreibe grade ein Buch, würde gerne deine Mitarbeit … usf. Ich habe ihm zurückgeschrieben: NO! Ich will nichts zu tun haben mit diesem Projekt! Danach dachte ich, das ist gegessen. Und dann war’s Dezember. Alle bekommen Pakete und ich werde runtergerufen Heiligabend in die Kammer: Post für Sie, ein Buch. Wisst ihr, normalerweise muss man jedes Buch beantragen, es muss alles genehmigt werden usf., und ich bekomme da plötzlich ohne Weiteres ein Buch ausgehändigt? In der Zelle schlag ich den auf, den ‚Bader Meinhof Komplex‘ von Aust, da liegt eine Visitenkarte drin: ‚Viel Spaß beim Lesen.‘ Der ist mir dann aber total vergangen. Ich finde da Sachen über mich, von denen er gar nichts wissen konnte! Aus einem top-secret psychologischen Gutachten, was ich grade mit Mühe und Not im Knast hatte über mich ergehen lassen. Ich bin vollkommen hinten runtergefallen, als ich das da drin gelesen habe! Eine Woche später – es waren ja Feiertage, es war schrecklich – habe ich dann von meinem Anwalt die ganze Scheiße erzählt bekommen. Es war so, der Aust hat mein Nein einfach ignoriert. Er hat eine Angestellte meiner Anwaltskanzlei in Frankfurt zum Diebstahl veranlasst. Sie hat es für ihn aus meinen Akten geklaut. Sie flog dann zwar raus, aber da war es ja schon zu spät. Stellt euch das mal vor! Er ist ja investigativer Journalist. Hallo! Und dieser noble Herr gilt bis heute als seriös. Also ich bin absolut allergisch gegen Interviews! Die Ausnahme mache ich nur, weil es um Dorothea geht.
Wie kam ich jetzt eigentlich auf den Aust? Ach ja, wegen dem Kerl, der Dorothea zur gleichen Zeit erpresst hat. Diese beiden Katastrophen haben mich völlig krank gemacht. Ich bin ausgeflippt. Ich musste mit Polizeischutzmaßnahmen in ein Krankenhaus verlegt werden. Und Dorothea hat mich dort besucht. Das war meine Rettung, sie war einfach da! So war sie, sehr stark. Sie hat auch die Erpressungssache selber geregelt. Clever wie sie ist, hat sie sich gar nicht unter Druck setzen lassen. Sie ist einfach zur Polizei gegangen. Die haben sich dann mit ihr zusammen eine Konstruktion ausgedacht, eine Falle, in die er dann auch prompt reingegangen ist. Das konnte sie auch, aber sonst, nur Solidarität. Und so, wie Dorothea mich unterstützt hat, hat sie auch andere unterstützt, besonders Astrid Proll. Die war ja jahrelang in London untergetaucht – damals bei ihr hatte übrigens auch Erich Fried seine helfenden Hände im Spiel, Dorothea hat ihn später dann auch durch Astrid kennengelernt, glaube ich. Jedenfalls Astrid war ja lange auf der Flucht, man las immer mal was. Sie war ungefähr so ein Phänomen wie Carlos: Astrid Proll wurde wieder da und dort gesichtet. Aber dann ist sie festgenommen worden in London, stand vor der Auslieferung, und dort hat Dorothea sie besucht. Das muss so 78 gewesen sein. 1979 wurde sie ausgeliefert nach Deutschland. Bei ihrem Prozess war dann auch Dorothea anwesend, sie saß im Zuschauerraum. Und ich habe ausgesagt!“
(Dass er vor Gericht erschien u. aussagte, war ungewöhnlich und zog schnell Verratsvorwürfe nach sich. Anm. G. G.). „Das war mir egal. Ich war ja verurteilt, saß bereits sieben Jahre im Knast und hatte nichts mehr zu verlieren. Astrid hatte viel zu verlieren. Aber lasst euch das von ihr selbst erzählen, die ganze Geschichte. Den Vorwurf Verräter kenne ich ja schon seit dem Hungerstreik. Dieser gigantisch inszenierte strategische Hungerstreik damals. Da hat mich nicht das Hungern angestunken, es hat mich angestunken, dass ich gar nicht wusste, worum es geht. Okay. Und dann habe ich irgendwann abgebrochen. Ihr müsst wissen, Jünschke und ich, wir saßen in Zweibrücken, Meins saß in Wittlich und der Rest saß in Stammheim – die Kommunikation war also höchst … Und kaum hatte ich abgebrochen, kamen die Bullen in den Knast und machten mir Angebote, wollten mich interviewen, da habe ich ihnen natürlich die Zähne gezeigt und habe wieder angefangen mit dem Hungerstreik. Es kam dann auch so eine Reaktion von Meins: ‚Du hast dich fürs Schweinesystem entschieden‘ usw.
Und es gab da einen Brief von Frau … Wie heißt sie noch? Äh, ach Scheiße, der Name ist weg!“ „Ensslin?“, sage ich. „Ja, klar! Sie schrieb: ‚Scheiß auf den Unteroffizier!‘ Ich dachte dann, Hallo! Wer sind die denn, die haben gar nichts gemacht und ich sitze wegen Polizistenmord und werde hier fertiggemacht? Ich hatte immer mehr das Gefühl, wir werden nur benutzt, für irgend’ne Scheiße. Ich muss mich doch für diese Arschlöcher nicht … brrr … Bin aber trotzdem wieder in den Hungerstreik getreten, denn das lasse ich mir ja nicht nachsagen! Und unglücklicherweise, am Wochenende, starb Holger Meins. Das war natürlich ein totaler Schock … brrr… Es war klar, so geht es nicht. Ich hab’ dann irgendwann gedacht … brrr … So! Ich habe dann ‚umgeswitcht‘, habe den Schalter umgelegt. Es hatte sich herausgestellt, dass es so komische Führungsebenen gab, was man ja lange nicht recht wahrhaben wollte. Ich habe mir dann gedacht, was soll ich mich aufreiben für eine Sache, die ich nicht überschaue? Ich habe mich verabschiedet von dem Konzept RAF. Aber nicht vor der Öffentlichkeit. Und ich schwöre euch, ich hab’s nicht gemacht, um dem Staat zu signalisieren, so, der ist jetzt brav, der ist weg, den könnt ihr haben … brrr… Nein! Ich habe einfach nur, als Erster vielleicht, gemerkt, dass die Nummer RAF gelaufen war. So! Noch Fragen?!“, sagt er barsch.
Ich möchte wissen, wie Dorothea auf seinen Schusswaffengebrauch reagiert hat. „Na total ablehnend. Darüber konnte man mit ihr eigentlich gar nicht sprechen, sie hat da ihre Position und Schluss! Ich kam damals als Deserteur der Bundeswehr nach Westberlin und war dann automatisch mitten drin.“ (Was er nicht erzählt: 1969 entschlossen sich er und einige andere Deserteure zu einer politischen Aktion. In Bundeswehruniformen vom Kostümverleih begaben sie sich zur polizeilichen Meldestelle, um sich vorschriftsmäßig anzumelden. Sofortige Verhaftung war die Folge. Zwar lag ein Haftbefehl vor wegen Fahnenflucht, der hätte aber in Westberlin – wo alliiertes Besatzungsrecht galt und westdeutsche Wehrgesetze keinerlei Geltung hatten – gar nicht vollstreckt werden dürfen. In einem Akt offener Rechtsbeugung wurden die Deserteure unter massiver Gewaltanwendung, gefesselt und blutig geprügelt, auf dem Luftweg nach Westdeutschland gebracht und dort inhaftiert. Anm. G. G. Genauer noch in: „Die Jahre der Kommune I“ von U. Enzensberger, S. 355).
„Dorothea war ganz klar gegen den ‚bewaffneten Kampf‘, trotzdem hat sie ihn ja eigentlich unterstützt. Fakt ist, sie war konsequent gegen das Tragen von Knarren. Ich habe ihr das natürlich genau erzählt, wie das abgelaufen ist, damals in der Wohnung in Hamburg. Wollt ihr es hören?“ Wir möchten. „Also der Grund, weshalb wir an diesem 2. März 1972 abends nach Einbruch der Dunkelheit in diese Wohnung gingen, war, wir wollten sie auflösen. Mittags um zwölf war nämlich in Augsburg an einer Bushaltestelle der Herr Weißbecker erschossen worden, und Weißbecker war derjenige, der die Wohnung ein paar Wochen vorher angemietet hatte. Es war klar, die Wohnung war heiß. Wir hatten damals eigentlich das Prinzip, wenn eine Unterkunft heiß ist, wird sie geräumt, beziehungsweise man geht gar nicht mehr hin. Das Blöde war aber, es war die Fälscherwerkstatt, und ich hatte dort noch wertvolle Sachen drin, die ich nicht aufgeben wollte. Eine spezielle Reprokamera, groß wie ein Kühlschrank und sehr schwer zu beschaffen, und auch Dokumente lagen noch da. Das war natürlich ein Riesenhirnriss von mir. Ich hätte nicht mehr reingehen dürfen!
Fakt ist, wir sind trotzdem hingefahren. Und ich war bewaffnet, gebe ich zu! Wir sind mit dem VW-Bus gefahren, einem Bulli, zweimal um den Block gekreist, vorsichtshalber, haben aber niemanden bemerkt. Ich habe Grundmann, der die Wohnung noch nicht kannte, kurz instruiert. Ihr müsst euch das so vorstellen, das war ein kleines Appartement in einer Hamburger Villa. Unten drin war der Kindergarten für so ’ne Sklaven-Firma Adia Interim, das war die erste Leiharbeiterfirma in Deutschland. Und der Kindergarten war für die Kinder der Leiharbeiterinnen. Abends um sieben war das Haus tot. Oben war das Appartement. Wir gingen rauf, ich schließe auf, und in dem Moment geht die Schießerei los, noch bevor ich das Licht anknipsen konnte. Ohne jede Vorwarnung. Es hat aus allen Ecken geblitzt und geknallt. In der Haft später habe ich ja genug Zeit gehabt, die ganzen Protokolle zu lesen. Wir wurden den drei Bullen, die uns in der Wohnung aufgelauert haben, minutiös angekündigt. Die hatten nämlich Funkkontakt zu denen, die draußen das Haus beobachtet haben. Also sie hätten mir im Dunkeln einfach eins über die Rübe geben können, zum Beispiel, und das wäre es dann gewesen, für alle Beteiligten. Aber die hatten Angst oder was, sie haben sofort geschossen. Das war völlig unprofessionell! Und ich hab’ instinktiv reagiert, habe meinen Trommelrevolver gezogen und ins Dunkel gefeuert. Dann wurde ich in den Kopf getroffen, in den Arm und in die Brust. Es ging alles ganz schnell, ich lag auf dem Boden und war am Ausbluten. Es war ein Geschrei, ich wusste gar nicht, was los war. Ich hatte diesen Hauptkommissar auch irgendwie getroffen im Dunkeln. Plötzlich ging das Licht an. Ich lag im Eingangsbereich der Wohnung und über mir steht so ein Jungscher, die Maschinenpistole im Anschlag, und sagt: ‚Wenn du dich bewegst, drücke ich ab!‘ Das war mir vollkommen egal, ich habe mir mit meinem Gürtel selbst den Arm abgebunden, denn es kam da raus wie eine Fontäne, das Blut.
Dann kam nach unheimlich langer Zeit so ein Sanitätsteam, die sind mit der Bahre über mich drüber in die Wohnung und haben den Kommissar rausgetragen, dann mich auch. Damals hatten sie noch solche flachen Krankenwagen, so Mercedes-Dinger, man wurde reingeschoben und nach oben war kaum mehr Platz. Da robbt sich während der Fahrt der Begleitbulle auf mich drauf, hält mir seine Knarre an die Schläfe und brüllt mich an: Wie heißt du, wo sind die anderen?! Und dann waren wir schon im Uniklinikum Eppendorf, sie haben mir die Sachen aufgeschnitten. Ich lag schon auf der Bahre für die Notoperation, war halb bewusstlos, da kommt ein Bulle und fummelt an mir rum. Der wollte meine Fingerabdrücke nehmen. Der Oberarzt musste ihn wegscheuchen. Dann weiß ich nichts mehr, ich war ohnmächtig und wurde operiert. Ich hatte einen Kopfdurchschuss, einen Lungendurchschuss und den Schuss in den Arm.
Der Hauptkommissar war im Unterbauch getroffen, sie haben ihn ein- oder zweimal operiert, aber er ist nach zwei Wochen gestorben. Das habe ich aber alles erst viel später erfahren. Ich durfte ja keinerlei Kontakt haben. Auf der Intensivstation saß neben mir ein Bulle mit durchgeladener Maschinenpistole. Aber eine von den studentischen Nachtwachen hat mir geholfen, damit ich einen Anwalt bekomme. Er hat mir heimlich einen Zettel zugesteckt. Auf dem Zettel stand der Name: Kurt Groenewold. Der kam dann auch. Also es haben mir immer wieder Leute geholfen, ohne die hätte ich gar nicht überlebt. Sie haben mich dann ja, obwohl ich nicht transportfähig war, lebensgefährliche Verletzungen hatte, in den Untersuchungsknast zwangsverlegt, gegen den Protest der ganzen Ärzte. Von der Intensivstation in eine dreckige, unhygienische Zelle, mit einem offenen Klo in der Ecke. Das war ein Versuch, mich krepieren zu lassen. Ich wäre da auch kaputt gegangen, aber in der Krankenabteilung gab’s damals schon linke Ärzte. Ein Dr. Ekkehard von Seckendorff, der später dann auch als Sympathisant zur RAF… Also die haben mich gerettet, die haben dafür gesorgt, dass ich keine Sepsis kriege, dass es glimpflich abgeht. Na, den Rest kennt ihr ja.“
Wir wechseln schon abschließende Worte, Manfred wirkt erschöpft, Elisabeth und ich sind im Begriff zu gehen, da erwähne ich noch das Spiegel-Interview mit der Witwe des erschossenen Hauptkommissars. (Es erschien 2007, steht i. Internet.) Er brummt unwillig: „Ja, hab’ ich auch gelesen damals …“ Dann ruft er plötzlich aus: „Ich wollte mich ja bei ihr entschuldigen …! Ich habe das damals, noch vor meiner Entlassung, beschlossen. Habe es mit meinem Knastpfarrer Hubert Janssen alles abgesprochen, der sollte ein Gespräch arrangieren, das war alles schon geplant. Ich habe dabei allerdings nicht an Public Relation gedacht. Hallo! Das hätte ich nicht vor der Presse gemacht. Ich wäre da hingefahren zu Frau … ich weiß gar nicht mehr den Namen …?“ „Eckhardt“, sagen wir. „Ja, ich wäre zu ihr hingefahren nach Hamburg, und unter vier Augen … Also ich wollte keinen öffentlichen Kotau machen, aber ich hätte ihr mein Bedauern ausgesprochen, ihr gesagt, es tut mir leid … Ich war drauf und dran, wenn sie mich hätte sehen wollen. Vielleicht, es hätte ja auch sein können, dass sie mir an den Kragen geht oder so was … Also, es war ein zartes Pflänzchen meinerseits. Es lief dann aber ganz anders. Ich kam raus aus dem Knast nach 17 Jahren, komme nach Berlin, und am selben Tag erscheint die Bild-Zeitung mit riesengroßer Aufmachung, ich glaube, auch mit Fotos, und da stand: ‚… Dafür habe ich kein Verständnis, der Mörder meines Mannes!‘ Und daraufhin habe ich mir gesagt, jetzt leckt mich doch alle am Arsch, davon will sowieso kein Mensch was wissen, was ich denke.
Ich hab’s euch ja geschildert. Die Stimmung war total hochgekocht damals, wir sind da im Dunkeln aufeinandergeprallt, und dann ist es passiert. Damals, als ich das mit dem Hubert besprochen habe im Knast, da hatte ich wirklich das Gefühl, wenn ich es mache, dann breche ich damit ein ganzes System auf, und es war mir egal, wenn wieder welche sagen, du Verräter – das kannte ich ja alles schon vom Hungerstreik und vom Prozess von Astrid …“ Wir finden, dass der eigentliche Verrat darin bestehen würde, eine nicht mehr haltbare Position als politische Linie weiter zu vertreten. „Aber das war nicht gewollt, vom Staat nicht und nicht von unseren Leuten. Vielleicht hätte sich sonst die Geschichte der RAF geändert. Versteht ihr?! Vielleicht wäre das alles nicht passiert, was danach noch passiert ist. Das ging ja noch jahrelang weiter! So, jetzt ist aber Schluss!“ Sag uns noch, wann du in die Ferien fährst, wegen der Belegexemplare …“ Er knurrt: „Ich sage gar nichts mehr. Keine Adresse und nichts, ich bin unerreichbar!“