: „Die Polarisierung im Land wird zunehmen“
Verstaatlichungen eröffnen keine neuen politischen Spielräume, sagt Bert Hoffmann vom Hamburger Institut für Lateinamerika-Studien
taz: Herr Hoffmann, wird Venezuela nach Hugo Chávez’ neuesten Ankündigungen ein zweites Kuba?
Bert Hoffmann: Das ist die Richtung, aber noch nicht die Gegenwart. Die Ankündigungen zeigen einige direkte Kopien kubanischer Vorbilder – etwa die Umbenennung der Ministerien in „Ministerien der Volksmacht“, der „Poder Popular“, ein direkt dem kubanischen System entlehnter Begriff. Allerdings: Venezuela ist derzeit noch keineswegs ein sozialistischer Einparteienstaat, und im Unterschied zur kubanischen Regierung ist die venezolanische immer wieder, zuletzt im Dezember, demokratisch gewählt worden.
Chávez hatte im Wahlkampf angekündigt, in seiner nächsten Amtszeit mit Volldampf auf den Sozialismus zuzusteuern – und er hat haushoch gewonnen. Macht er nicht einfach, wofür er gewählt wurde?
In der polarisierten politischen Situation in Venezuela hatten die Wähler ja nicht die Möglichkeit, sich zwischen einem radikaleren oder einem moderateren Kurs Chávez’ zu entscheiden, sondern nur zwischen Chávez und konservativer Opposition. Für die Nationalisierungen mag Chávez eine Mehrheit haben. Dass Chávez trotz Parlamentsmehrheit jetzt mit Präsidialdekreten regieren will, mag aber auch Leuten zu weit gehen, die Chávez gewählt haben.
Also hat er dafür kein Mandat?
Die Frage ist, ob es verfassungskonform ist. Die klassische Auffassung ist eigentlich, dass man aufgrund eines Wahlergebnisses nicht den ganzen Staat zur Demontage freigeben kann, wie dies Chávez jetzt – auch in dieser Wortwahl – getan hat. Aber Chávez sieht das als revolutionären Prozess, und ein solcher reklamiert eine andere Auffassung von Legitimation für sich.
Was bedeuten der geplante Lizenzentzug für den Sender RCTV und die Sondervollmachten, die Chávez haben will, für die Demokratie?
Das ist eine starke Belastungsprobe, die die Polarisierung im Land und die Konflikte innerhalb Lateinamerikas verschärfen wird. „Sozialismus“ ist ja ein dehnbarer Begriff – auch Lulas Arbeiterpartei ist in der Sozialistischen Internationale. Aber das sind doch sehr unterschiedliche Konzepte. Im Regionalbündnis Mercosur, wo beide Mitglied sind und die gleiche Demokratieklausel unterschrieben haben, wird das sehr anstrengend.
Das Verhältnis der Regierung Chávez zu den USA ist schlecht – doch nach den Wahlen schienen in Washington die Zeichen auf Entspannung zu stehen. Ist das jetzt vorbei?
Es ist sehr schwer, in den letzten Jahren überhaupt irgendeine rote Linie in der US-Lateinamerikapolitik zu finden. Sicher werden die USA reagieren, aber sie sind außenpolitisch so stark auf den Irak konzentriert, dass Venezuela noch immer als Nebenschauplatz gilt. Ich erwarte keine frontale Reaktion, auch wenn sich die Debatte darüber verschärfen wird, dass man eine kohärente Lateinamerikapolitik braucht.
Gleich nach den Ankündigungen der Nationalisierung ist der Börsenkurs von CANTV in New York abgestürzt. Was können die Nationalisierungen wirtschaftlich bedeuten?
Der Börsenkurs ist Venezuela vermutlich gerade ziemlich gleichgültig. Venezuela ist ein so ölreiches Land, dass es bei den derzeitigen Preisen eigentlich unsinkbar ist. Gleichzeitig eröffnen die neuen Verstaatlichungen auch keine wesentlichen neuen Handlungsspielräume – denn die hat der Staat bereits. Über die staatliche Ölgesellschaft PDVSA hat die Regierung mehr wirtschaftliche Präsenz als irgendein anderes lateinamerikanisches Land, sogar im Vergleich zu den Jahren des starken Staatsinterventionismus der 60er- und 70er-Jahre. INTERVIEW: BERND PICKERT