Die Pille für die Stille: Schlaf kann so kostbar sein
Melatonin-Tabletten sollen gegen Jetlag und Schlafstörungen helfen. Immer mehr Fernreisende pfeifen sich die Pillen ein. Aber helfen sie wirklich?
Der letzte Urlaubstag war verdammt lang. Morgens das Gepäck von vier Wochen USA-Reise in den Mietwagen gequetscht. Mittags ein letztes Mal an den Strand gegangen und die Füße in den kalten Pazifik gehalten. Nachmittags im Highway-Gewirr den Flughafen angesteuert. Eingecheckt. Gewartet. Sich mit dem Sitznachbarn im engen Flugzeugsessel einen zähen, aber entscheidenden Stellungskampf um die Armlehne geliefert. Und dann: Motorenlärm, Klimaanlagengetöse, Start … Heimflug. Das hätten elf schlaflose Stunden werden können.
Die kluge Reisende aber hatte vorgesorgt und sich - wie an jedem Abend der Woche zuvor - eine Melatonin-Tablette eingepfiffen. Fünf Milligramm Schlafhormon. Der Körper hatte sich bereits vorbildlich daran gewöhnt, um diese Zeit seinen pharmazeutischen Gutenachtkuss zu bekommen, und versank direkt nach dem Flugzeugabendessen in einen Sieben-Stunden-Schlummer. Fliegen, dachte die Reisende: ein Kinderspiel. Jetlag? Wie wird das buchstabiert?
In diesen Tagen, wenn die Ferien enden und die zeitzonenverwirrten Körper der Fernreisenden wieder den Anforderungen von Arbeit, Uni und Schule gerecht werden müssen, gibt es gar nicht mal so wenige Erwachsene, die sich mit Melatonin-Tabletten passgenau in den Schlaf hineinbeamen. Melatonin, jenes Hormon, das sonst von der Zirbeldrüse im Gehirn produziert wird, beeinflusst den menschlichen Schlaf-Wach-Rhythmus. Wird es dunkel, schüttet die Drüse Melatonin aus, Blutdruck und Körpertemperatur sinken - der Körper wird müde. Wird durch Zeitzonenhopping dieser Rhythmus durcheinandergewirbelt, können Melatonin-Tabletten gegen den Jetlag wirken.
Wohlgemerkt: können. Denn ob künstlich hergestelltes Melatonin tatsächlich jenen hilft, die nach Fernreisen morgens um drei schlaflos durch ihre Wohnung geistern, ist nicht sicher belegt. Zwar gibt es kleinere Doppelblindstudien, deren Teilnehmer unter Melatonin-Einfluss schneller müde wurden und länger schliefen. Neuere Forschungen allerdings gehen davon aus, dass der künstliche Schlafbooster nur bei einem von vier Probanden tatsächlich wirkt. Alles andere ist wohl Placebo.
Wortbesteck für den Club der Hunderjährigen
Für andere Wirkungen, die dem Mittel ebenfalls nachgesagt werden, gibt es bis heute keine wissenschaftlichen Beweise. Angeblich soll Melatonin jung halten und schlau machen, ja, es soll sogar Krebszellen bekämpfen, und wem das noch nicht genug ist, dem versprechen Ratgeberbücher volleres Haar. Da ist von "Antioxidanzien" die Rede, von "Lebenszeitverlängerung" und "Zellschutz" - Wortbesteck, das signalisieren soll, hier sei der Stein der Weisen entdeckt worden und der Mitgliedschaft im Klub der Hundertjährigen stünde nichts mehr im Wege.
Diesen und viele weitere interessante Artikel lesen Sie in der sonntaz vom 3. und 4. September 2011 – ab Sonnabend zusammen mit der taz am Kiosk oder am eKiosk auf taz.de. Die sonntaz kommt auch zu Ihnen nach Hause: per Wochenendabo. Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz.
In den USA, wo Melatonin seit 1994 neben Aspirin, Pflastern und Kohletabletten gegen Durchfall frei verkäuflich in den Supermarktregalen steht, schwören vor allem Ältere auf das Präparat. Millionen US-Amerikaner schlucken Tag für Tag ihre ein bis fünf Milligramm. Denn je älter ein Mensch wird, desto weniger natürliches Melatonin produziert er. Die Folge sind Ein- und Durchschlafstörungen, auch senile Bettflucht genannt. Tatsächlich leiden vor allem ältere Frauen und Männer unter hormonell bedingten Schlafstörungen, der Insomnie. Für sie gibt es seit 2008 in Deutschland ein Melatonin-Präparat. Circadin ist verschreibungspflichtig und mit 25 Euro für 20 Tabletten ziemlich teuer. Zum Vergleich: In der US-amerikanischen Drogeriekette Walgreens kosten 180 Tabletten 11 Dollar, also knapp 8 Euro. Das in Deutschland hergestellte Circadin enthält zwei Milligramm des Wirkstoffs und ist für Patienten gedacht, die älter sind als 55 Jahre.
Kritiker sehen die Wirksamkeit des Melatonin-Präparats als nicht erwiesen. Außerdem halten sie die "unerwünschten Wirkungen" - von Nebenwirkungen keine Rede - für nicht ausreichend erforscht. So kritisiert das Arznei-Telegramm, eine von der Pharmaindustrie unabhängige Zeitschrift für Ärzte und Apotheker, dass die Entzugssymptome von Circadin erst nach der Zulassung erforscht werden sollten. Zudem seien weder Dosierung noch Wirkung und Langzeitsicherheit ausreichend untersucht worden. Die Pharmakologen raten von der Einnahme ab.
Allein: Im Fall eines Hormons, das im Ausland billig zu haben ist und sich leicht (wenngleich illegal) in geräumigen Reisetaschen importieren lässt, verhallen die Warnungen der Fachleute. Denn wer weiß, wie sich Schlaflosigkeit anfühlt, wer mit tiefen Augenringen seinen Tag bewerkstelligen muss und wessen Gedanken wegen des Schlafmangels ruhelos kreisen, der nimmt das Zeug. Schlaf kann so kostbar sein. Da nimmt es nicht Wunder, dass die Warenwelt sich auf immer verwirrendere Weise ausdifferenziert. Im Mai erst wurde in den USA einem Münchner Unternehmen für die Produktion von natürlichem Melatonin ein Patent erteilt. Das Unternehmen handelt mit sogenannten Nachtmilchkristallen. Was klingt wie aus dem Sterntaler-Märchen der Brüder Grimm, stellt tatsächlich gefriergetrocknete Nachtmilch dar. Also Milch von Kühen, die nach Sonnenuntergang gemolken werden. Das Granulat daraus enthalte, so das Versprechen, hundertmal mehr Melatonin als normale Milch.
Der Zweibeiner bettet sich, die Kuh muss ran
Tatsächlich ist es bei der Kuh wie beim Menschen: Wird es dunkel, erhöht sich die körpereigene Melatoninausschüttung. Während aber der Zweibeiner sich bettet, muss die Kuh ran: Sie wird gemolken, und ihre Milch wird in abgepackten Granulatbeutelchen an hundemüde Menschen verkauft. Die Verbraucherschützer von Esowatch kritisieren, eine Tagesration zu 1,56 Euro enthalte weniger Melatonin als die entsprechenden Medikamente. Und die Autoren der pharmakritischen Zeitschrift Gute Pillen, schlechte Pillen sprechen von einem "teuren Placebo" und empfehlen schlaflosen Urlaubsheimkehrern vor dem Zubettgehen "ein Glas normale Milch". Womöglich stellt dies zumindest die ungefährlichste Lösung für jene dar, die schlaflos aus dem Urlaub kommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Im Gespräch Gretchen Dutschke-Klotz
„Jesus hat wirklich sozialistische Sachen gesagt“