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■ Die Perle Sibiriens, der Baikalsee, soll nun gerettet werden, berichtet Alice Meyer aus Moskau

Einer der größt UdSSR, G.F. Pronin, wurde am letzten Wochenende gefeuert. Andere leitende Manager und Funktionäre aus dem Ministerium für Forstwirtschaft der russischen Föderation (RSFSR), sowie aus dem Staatskomitee der UdSSR für Forstwirtschaft wurden verwarnt oder in den Ruhestand versetzt. Das ZK der KPdSU machte Schuldige „an der Nichterfüllung von früher verabschiedeten Entschließungen über die Durchführung von Naturschutzmaßnahmen im Seegebiet des Baikal“ in fast allen Zentralbehörden aus, soweit deren Wirtschaftstätigkeit den See in irgendeiner Form betrifft: Dazu gehören vier Unionsministerien, zwei Unionsstaatskomitees, der Ministerrat der russischen Föderation als derjenigen Unionsrepublik, auf deren Territorium sich der Baikalsee befin det, mehrere Ministerien und Staatskomitees der Föderation und schließlich auch die sibirische Abteilung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Bürokratische Ohnmacht Die Länge der Liste zeugt nicht von hartem Durchgreifen, sondern eher von Hilflosigkeit. Keine Moskauer Zentralbehörde ist für die Industrieansiedlungs– und Immissionsschutzpolitik am Baikal gesamtverantwortlich oder nimmt wenigstens federführende Aufgaben wahr. Die Vorwürfe der Parteiführung an die Adresse der Behörden und Ämter: ZK– und Ministerratserlasse aus 1969, 1972 und 1977, die sämtlich die „rationale Nutzung der Naturreichtümer des Baikal“ sicherstellen sollten, wurden systematisch mißachtet und verletzt. Die Verschmutzung von Wasser und Uferzone durch Industrie– und Agrarabfälle, durch Abgase, unerlaubten Holzeinschlag, unterlassene Aufforstungsmaßnahmen sowie - als Folgeerscheinung - durch zunehmende Wasser– und Winderosion nimmt, so das düstere Resü mee des ZK vom Mai 1987, bis heute ihren Fortgang. Im Jahre 1966 war am wasserreichsten Binnensee der Erde (nach sowjetischen Angaben 23.600 Kubikkilometer Wasserinhalt) mit dem Bau eines riesigen Zellstoffkombinats sowie anderer Fabriken begonnen worden. Der „reinste und sauberste Süßwasserbrunnen der Welt“ schien sich für die Herstellung eines Spezial– Zellstoffs, der bei der Gewinnung von hochfestem Kord benötigt wird, gerade anzubieten. Die sowjetische Automobilindustrie, der Flugzeugbau und die „Verteidigungsindustrie“ verlangten solches Material zur Reifencordherstellung. Über Bedenken von Naturschützern glaubte man sich hinwegsetzen zu können, denn die Projektierungs– und Konstruktionsbüros hatten mit den Aufbauplänen zugleich die Schaffung von Reinigungssystemen vorgeschlagen. Wildes Bauen im Sozialismus Aber schon zwei Jahre später, im Sommer 1968 - die erste Baustufe des Zellstoff–Kombinats war bereits Ende 1966 in Betrieb gegangen, obwohl das ganze Investitionsprojekt erst 1968 offiziell genehmigt worden war - registrierte die limnologische Seewache der sibirischen Abteilung der Akademie der Wissenschaften eine zunehmende Verschmutzung des Wassers und bemerkte sonstige störende Eingriffe in die Natur. Als Verursacher wurden eindeutig das Zellstoffwerk sowie die stark anwachsende Holzflößerei ausgemacht. Die Wissenschaftler schlugen Alarm: Einer der schönsten Seen der Welt, an dessen Ufern über 600 seltene Pflanzen und 1.200 Tierarten ihren Lebensraum haben und in dessen Wasser 52 Fischarten leben, die man kaum in einem anderen Gewässer der Erde mehr finden kann, ist bedroht. „Herrlicher Baikal, berühmtes Meer...“ Die administrativ–bürokratisch in Gang gesetzte Produktionsmaschine war jedoch nicht mehr aufzuhalten. Einflußreiche Industrieressorts und karrierebewußte Minister hingen von den billigen Rohstoff– und Wasservorräten des Baikal ab. Es folgte die Errichtung eines Zellulose– und Kartonagen–Kombinats am Baikalzufluß Selenga (Abwässer solcher Zellstoffbetriebe enthalten gewöhnlich äußerst giftige Bestandteile wie Sulfide, Phenole u.a. Chemikalien). Holzschlag und -verarbeitung expandierten, die Pläne wurden übererfüllt. Proteste Aber auch der Widerstand regte sich bald. Er fing schon 1959 an. In der Literaturnaja Gaseta erschien ein Artikel mit dem Titel „Der Baikalsee muß zum Schonrevier werden“, in dem zum ersten Mal eine Kritik an dem damals geplanten Zellulosewerk formuliert wurde. 1961 veröffentlichte die Zeitung Komsomolskaja Prawda den Artikel „Der Baikalsee ist in Gefahr“. In einem Portrait über den in Sibirien lebenden Schriftstellter Wladimir Tschiwilichin wurde 1963 verlangt, daß das Werk verlegt werden müsse, möglichst weit weg vom See. Die Diskussion wurde Mitte der sechziger Jahre um so heftiger geführt, je näher der Termin der Inbetriebnahme rückte. Ein großer Erfolg war auch der Film von Sergej Gerassimow, „Am See“, der in jenen Jahren zum Problembewußtsein der Öffentlichkeit beitrug. Und viele Menschen protestierten. „Die Holzeinschlagsindustrie am Baikalsee“, so schrieb N. Sudsilowskij aus Moskau der Redaktion der Iswjestija, „stellt die Interessen des Staates, des Volkes hinter die Erfüllung des eigenen Plans.“ Der Leser kritisierte dies als „Ämter–Merkantilismus“. Andere Leserstimmen riefen nach dem staatlichen Planungskomitee der UdSSR (Gosplan) als nach dem „am meisten geachteten und einflußreichen Organ“. Dort müsse man doch begriffen haben, was der Zerstörung der Wälder am Baikalsee folgt: die Verunreinigung des Seewassers und die Versandung der landwirtschaftlichen Nutzflächen. Den Höhepunkt der öffentlichen Kampagne gegen die Zerstörung des Baikalsees stellte die Polemik des sibirischen Schriftstellers Walentin Rasputin dar, der am 11. März 1987 in der Prawda die Anklage gegen die Zerstörung des Sees mit einer Kritik an der sowjetischen Industriepolitik verbinden durfte. Ein neues Maßnahmenbündel Partei und Behörden zeigten endlich Wirkung. Einem ZK– und Ministerratserlaß vom März 1987 zufolge sind der Neubau und die Erweiterung von Betrieben in der Wasserschutzzone des Baikal künftig nur noch in „Ausnahmefällen“ und mit Genehmigung der Regierung der russischen Föderation zulässig. Gosplanchef Nikolai Talysin - der als erster hoher Wirtschaftsfunktionär Anfang 1986 offen zugegeben hatte, daß die Errichtung von Zellstoff–Fabriken am Baikal ein Fehler war - stellte in einem Prawda–Interview vom 10. 5. 87 einmal mehr die Installierung hochwirksamer Anlagen zur Wasser– und Luftreinhaltung in Aussicht. Das Holzeinschlagsvolumen am Baikal soll, so führte der Gosplanchef weiter aus, ab 1988 eingeschränkt, die Holzflößerei auf dem See verboten und der Brandschutz verbessert werden. Ferner stellte Talysin für das 13. Planjahrfünft (1991–95) eine Umrüstung des Zellstoff– und Papierkombinats Baikalsk in eine Möbelfabrik in Aussicht. Das Zellulose– und Kartonagenkombinat an der Selenga soll einen geschlossenen Wasserver– und -entsorgungskreislauf erhalten. Und schließlich wird eine ressortübergreifende Kommission für die Überwachung des Umweltzustandes am Baikal eingesetzt. Für sowjetische Verhältnisse neu an diesem Gremium ist, daß ihm nicht nur Experten und Bürokraten aus den Ministerien angehören sollen, sondern auch Vertreter von Literatur und Kunst sowie der „breiten Öffentlichkeit“. Was mit den 140 Industrieobjekten geschehen soll, die am See angesiedelt sind, darauf wußte Talysin allerdings keine Antwort. Rauchentschwefelung gibt es nicht - 100.000 Hektar Tannenwaldes sind bereits schwer geschädigt. Sieg für die Umwelt? Die Entscheidung, das Zellstoffwerk Baikals langfristig stillzulegen bzw. in eine Möbelfabrik umzurüsten, dürfte den Moskauer Planern allerdings nicht mehr schwer gefallen sein. Hochreiner Kordzellstoff - das Produkt also, dessentwegen das Zellstoff–Kombinat in Baikalsk überhaupt errichtet worden war - ist durch den technischen Fortschritt inzwischen weithend überflüssig geworden: An seine Stelle traten synthetische Fasern und Metallkord. Infolge von Ausrüstungsmängeln hatte stets ohnehin höchstens die Hälfte des Gesamtausstoßes die Güteklasse von Kordzellstoff. Aber schon droht von anderer Seite neue Gefahr. Die Umgestaltung und Modernisierung verlangt nach Papier. Schon jetzt wandern die Investitionsschwerpunkte der sowjetischen Holz–, Zellstoff– und Papierindustrie immer weiter nach Osten, um noch nicht bewirtschaftete Waldbestände Sibiriens zu „erschließen“. Bald wird es wohl heißen: Rettet die Taiga.

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