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■ Die Osterweiterung der Nato bestärkt das geopolitische Denken in Rußland. Eine Isolation des Landes drohtJagd nach Verbündeten

„Was haben wir nicht alles getan, damit Europa uns als die Seinigen anerkenne, als Europäer, als Nur-Europäer, und nicht als Tataren!“ schrieb Fjodor Dostojewski 1881. Der zivilisatorische Graben zwischen Rußland und Europa ist auch ein Jahrhundert später noch nicht eingeebnet. Auch das Rußland der Reformen ist noch kein modernes Staatswesen, das wirtschaftliche Potenz höher bewertet als die räumliche Ausdehnung des Reiches. Noch immer beherrscht geopolitisches Denken die Köpfe, wird Größe in Moskau mit territorialer Expansion verwechselt.

Die Osterweiterung der Nato scheint daher nur eine logische Konsequenz, die auf unzeitgemäßes Denken und latente Bedrohung reagiert. Indes unterliegt auch sie einem Anachronismus, erweitert auch sie lediglich den Raum, statt die Sicherheit zu erhöhen. Den westlichen Politikern der Ära nach dem Kalten Krieg fällt es offenkundig leichter, das Risiko eines Nuklearschlages einzukalkulieren, um – nur als Beispiel – Ungarns Grenzen zu schützen, als ihren eigenen Bürgern ungehinderten und unbegrenzten Genuß magyarischer Fleischtomaten zu gestatten. Das Argument, die Integration der mitteleuropäischen Staaten fördere deren innere Stabilität und Demokratisierung, ist ein fadenscheiniges. Hat die Mitgliedschaft Griechenland, Spanien oder die Türkei demokratisiert? Die Unbeweglichkeit des Bündnisses demonstriert nur den Unwillen, sich selbst zu reformieren. Kurzum: Die militärische Integration verschleiert die mangelnde Bereitschaft des satten Europa, sich wirklich gen Osten zu öffnen. Hier wird mit Falschgeld gespielt, das den tatsächlich schutzbedürftigen Ost- und Mitteleuropäern Sicherheit nur vorgaukelt.

Der Westen denkt statisch und ahistorisch. In den „Enthüllungen zur Geschichte der Diplomatie im 18. Jahrhundert“ führte ausgerechnet Karl Marx den Nachweis, es sei dem Westen – namentlich dem englischen Empire – zu verdanken, daß Rußland überhaupt die Möglichkeit erhielt, sich zu so ungeheurer Größe und Dominanz in Europa zu entwickeln. Teils aus kleinlicher Machtpolitik, vor allem aber aus Ignoranz und Unkenntnis. Ein krankes Rußland ist kein schwaches, ein gekränktes eine größere Bedrohung als ein starkes, weil es seine barbarischen (Marx: halbasiatischen) Elemente in kürzester Zeit mobilisieren kann.

Die Ausdehnung der Allianz verschafft jenen Kräften in Moskau Auftrieb, die an den alten Schablonen festhalten, während die Autorität jener untergraben wird, die ihr Land fest in den Westen einbinden wollten. Seit dem Zerfall der Sowjetunion gab es kein Ereignis, das die politischen Lager in Moskau so einmütig bewertet hätten wie das Heranrücken der Nato an die ehemaligen Grenzen des kommunistischen Imperiums. Nur wenige Politiker sehen dem gelassen entgegen. Betonen nationalistische Kräfte eher das militärische Ungleichgewicht, das auf dem Kontinent entsteht, befürchten reformorientierte Kreise, Rußland falle nun endgültig auch aus dem wirtschaftlichen Integrationsprozeß Europas heraus.

Der Chauvinist Dostojewski riet dem Zaren, nicht weiter um Europas Gunst zu buhlen, sich statt dessen auf Asien zu besinnen: „Dort liegen unsere Reichtümer. In Europa waren wir nur Gnadenbrotesser und Sklaven, nach Asien aber kommen wir als Herren.“ Der Zar schenkte dem Schriftsteller kein Gehör. Dennoch gilt das vergangene Jahrhundert als Geburtsstunde einer Denkrichtung, die der asiatischen Interpretation Rußlands im eigenen politischen Selbstverständnis einen festen Platz zuwies. Wie alles in Rußland ist auch diese Idee amorph, nicht fest umrissen, beschreibt eher eine Gefühlslage denn eine Theorie. Doch als antiwestliches Ressentiment ist sie in den tieferen Schichten des Alltagsbewußtseins präsent. Die Erniedrigung nach der Niederlage im Kalten Krieg mag sich erst nach Jahren impulsiv einen Weg bahnen. Rußland denkt mit dem Bauch, wehrt sich immer noch gegen Rationalität, Logik und begriffliches Denken. Nun wird es auch noch gezwungen, im frühkindlichen Stadium zu verharren. Sollte es da nicht irgend- wann nur noch den eigenen Vorteil im Auge haben? Wer eindämmt durch Ausgrenzung, der spielt va banque.

Seit Amtsübernahme Anfang vorigen Jahres verlegte Außenminister Jewgeni Primakow demonstrativ die Suche nach Bündnispartnern in die asiatische Region. China und Indien gelangten in die engere Wahl. Ebenso der Iran. Als westliche Staaten ihre Botschafter aus Teheran zurückbeorderten, hinderte das Moskau nicht, den Sprecher des iranischen Parlaments mit allen Würden zu empfangen. Teheran gehört seit langem zu den größten Abnehmern russischer Waffensysteme und Nukleartechnologien. Seit kurzem verbindet sie noch ein weiteres Interesse: Anrainerstaaten des Kaspischen Meers und westliche Ölfirmen planen, eine Pipeline nach Pakistan zu verlegen. Rußland und der Iran würden umgangen. Die ehemaligen Sowjetrepubliken indes könnten mit gewaltigen Westinvestitionen rechnen. Mit Recht fürchtet Moskau, die mittelasiatischen Staaten würden sich von russischer Bevormundung lösen. Zumal die Integration der GUS nicht vorankommt. Im Gegenteil, Georgien, Aserbaidschan, Turkmenistan, Usbekistan und Kirgisien schlossen sich zusammen, um die Kooperation zu beschleunigen. Deren erfolgreiche Zusammenarbeit spornte auch die Ukraine an, sich anzuschließen. Sollten den Kreml da keine Einkreisungsprobleme verfolgen?

Die größten Hoffnungen verbindet Primakow mit dem Reich der Mitte. Die Chinesen teilen die russischen Aversionen gegen den amerikanischen Führungsanspruch und begrüßen das Konzept einer „multipolaren“ Welt. Russischen Avancen in Richtung auf ein Miltärbündnis begegnen sie auf ihre Weise. Sie brüskieren den Brautwerber nicht, geben ihm allerdings zu verstehen, an einem Militärbündnis nicht interessiert zu sein.

China liegt an einem pragmatischen Verhältnis zu Rußland, um seine wirtschaftliche Potenz auszubauen. Moskau hofft indes, die weltpolitische Geltung mit Pekings Hilfe zu liften. Momentan überlagern sich die Interessen, aber wird es auf Dauer so bleiben? Wohl kaum: Im dünnbesiedelten, rohstoffreichen russischen Fernen Osten fürchtet man schon heute die emsigen Arbeiter aus China. Keine Basis für ein tragfähiges Bündnis. Rußland ist ganz allein auf sich gestellt und in den Augen der Asiaten ein westlicher Nachbar. Klaus-Helge Donath

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