: Die Ordnung der Freiheit
Der Liberale Ralf Dahrendorf analysiert die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts und findet bewährte Antworten. Er vertraut nicht auf die globale Demokratie, sondern auf die Bürgergesellschaft
von DIETER RULFF
Ralf Dahrendorf gehört zu der in Deutschland rar gewordenden Spezies der Liberalen, für die sich Fortschritt nicht in der Entfaltung des Markts erschöpft. Er bemisst ihn daran, inwieweit er zur Ausweitung menschlicher Freiheit beiträgt. Während der organisierte Liberalismus sein Trachten und Sinnen auf den Rückzug des Staates aus den Belangen der Wirtschaft verengt, sorgt sich der Soziologe Dahrendorf um größere Zusammenhänge: um die Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen und die Bindungen, die die offenen Gesellschaften zusammenhalten, und um die Erosionen, denen ihre politischen Institutionen unterliegen. Mehrfach hat der einstige FDP-Vordenker betont, dass sein Denken mit dem aktuellen Programm der Liberalen nicht mehr viel gemein hat.
Wer wissen will, wie weit die FDP von ihrer einstigen Bestform entfernt ist und welchen Beitrag ein Liberalismus für die Zukunft leisten könnte, dem sei Dahrendorfs Abhandlung über „eine Politik der Freiheit für das 21. Jahrhundert“ empfohlen, die auf sechs Vorlesungen aus den Jahren 2001 und 2002 basiert.
Der Fortschritt ist bei Dahrendorf kein Deus ex Machina: Demokratie, Wohlstand und Aufklärung setzen sich nicht qua einer ihnen innewohnenden Kraft durch. Freiheit ist eine Vita activa, deren Mittel zum einen die Regeln der Verfassung und zum anderen die Ausstattung des Einzelnen mit einen Set an Lebenschancen sind. Gemessen an diesem anspruchsvollen Freiheitsbegriff fällt Dahrendorfs Abwägung des Gerechtigkeitsprinzips relativ dürftig aus. Er sieht sich einem Grundausstattungs- Marktliberalismus verpflichtet. Wie weit diese Grundausstattung reicht, wie stark der Staat stützend in das gesellschaftliche Leben eingreifen soll, bleibt vage. Orientierungspunkte für die aktuellen sozialpolitischen Kontroversen liefert er kaum.
Dahrendorf kann das vernachlässigen, weil seine Bürgergesellschaft sich von staatlicher Beeinflussung und Förderung unabhängig entfaltet. Sie ist die wichtigste Ligatur, die den Optionen der modernen Wirtschaftsgesellschaft gegenübersteht. Sie ist „ein schöpferisches Chaos“, das aus einem weit verzweigten Netz von Selbstorganisationen gespeist wird, die den verschiedensten Eigenzwecken nachgehen und gleichwohl gemeinwohlstiftend sind.
So ganz traut Dahrendorf allerdings nicht der Haltbarkeit dieser Netze. Deshalb lässt er als stabilisierendes Element den Kitt des ethnisch homogenen Zusammenhalts gelten. Multikulturelle Gesellschaftsentwürfe sieht er als gescheitert an, die Generationenen überdaunernde Exklusivität der verschiedenen Migrantengemeinden in den europäischen Metropolen ist ihm dafür ein Beleg. Zur Stabilisierung der Gesellschaft hält er vielmehr die konsequente Durchsetzung des Rechts für unabweisbar. Es dürfe keine No-go-Areas geben. Dahrendorfs Staat ist zweifelsohne ein starker Staat. Die Bindung des Verfassungspatriotismus ist ihm zu dünn, um die disparaten Kräfte zu einem Volk zu einen. Ernüchtert nimmt er auf diese Weise Abschied von einer liberalen Blickrichtung auf die Entwicklung der Gesellschaft.
Der starke Akzent, den Dahrendorf auf die Ligatur der Gesellschaft setzt, ist eine Antwort auf die anomischen Tendenzen, die er mit der Globalisierung am Werke sieht. Globalisierung ist für ihn nicht nur ein Feld neuer Optionen, sondern gleichbedeutend mit Entdemokratisierung, mit dem Verlust eines Systems der checks and balances.
Der Hoffnung auf eine globale Demokratie erteilt er eine Absage, die Aktivitäten der NGOs betrachtet er mit Skepsis. Stattdessen kapriziert er sich darauf, eine Reihe von zweitbesten Anwendungen der Prinzipien der Demokratie voranzutreiben. Dazu zählen für ihn vor allem der Ausbau des Rechts, das Festhalten am Nationalstaat als dem Rückgrat der Verfassung, die Freiheit und die Bürgergesellschaft. In ihnen erkennt er die Bollwerke gegen „eine Grundtendenz zum Autoritarismus“, die seit 1989 zunehmend an den Demokratien nagt. Doch diese Krise der Demokratie hat ihren Ausgangspunkt zweifellos in den Zuständen der Nationalstaaten, in der Schwäche der Bürgergesellschaften und dem Versagen der Parlamente – weshalb Dahrendorfs Therapie nicht frei von Gesundbeterei ist.
Das tut der Klarheit seiner Analyse keinen Abbruch. Wer diese vertiefen will, dem sei allerdings ein Band mit zehn Gesprächen empfohlen, die der italienische Journalist Antonio Polito mit Dahrendorf zum gleichen Themenkomplex geführt hat. Das Buch ist auch kürzlich erschienen und bringt Dahrendorfs Gedanken weitaus prägnanter auf den Punkt.
Ralf Dahrendorf: „Auf der Suche nach einer neuen Ordnung. Eine Politik der Freiheit für das 21. Jahrhundert“, 156 Seiten, 14,90 € Ders.: „Die Krisen der Demokratie. Ein Gespräch“, 130 Seiten, 12,90 €. Beide Bücher bei C. H. Beck, München 2003