KOMMENTAR: Die Neuwahlen kommen zu spät
■ Bulgariens Reformkommunisten stehen vor dem Verlust der Macht
Eigentlich stand der Rücktritt der bulgarischen Regierung bereits nach der Wahl im Frühjahr 1990 auf der Tagesordnung. Obgleich das oppositionelle Bündnis damals in den großen Städten vorne lag, war es dem alten Apparat auf dem flachen Lande noch gelungen, mit nicht ganz sauberen Methoden eine knappe Mehrheit für die als „Sozialisten“ angetretenen Reformkommunisten herauszuholen. Die neue Regierung steckte sofort in einer Zwickmühle: wollte sie der Protestbewegung mit staatlichen Repressionsmitteln begegnen, wäre dies der Beweis ihrer Reformunfähigkeit gewesen. Die Reformen tatsächlich anzupacken, bedeutete aber zugleich, der Opposition mehr Spielraum zu geben und das Fundament der eigenen Herrschaft zu unterhölen.
Die Regierung Lukanow versuchte seit Juni, das Oppositionsbündnis in die Regierung einzubinden, indem sie zustimmte, den Oppositionsführer Schelju Schelew zum Staatspräsidenten zu küren. In einem Stadium des Umbruchprozesses, in dem die alte Kommandowirtschaft nicht mehr greift, die Marktmechanismen aber noch nicht entwickelt sind, in dem also selbst die Lebensmittelversorgung nicht mehr klappt, wollte sich die Mehrheit der Opposition jedoch nicht auf ein solches Angebot einlassen, weil dies nur die „kommunistischen Strukturen“ konserviert hätte.
Den Demonstrationen gegen die Symbole der kommunistischen Herrschaft im August folgten die Demonstrationen für den Sturz der Regierung. Als ein großer Teil der Arbeiter in den Streik trat, war Lukanow gezwungen, zu handeln. Mit dem Angebot, eine Expertenregierung zu bilden und Neuwahlen im Mai nächsten Jahres abzuhalten, soll dem Zerfallsprozeß der staatlichen Autorität Einhalt geboten werden.
Obwohl dem Vorschlag der Bildung einer Expertenregierung der Geruch von Verzögerungstaktik anhaftet, haben die „Sozialisten“ den eigenen Machtverlust im Interesse des „Gesamtwohls“ ins Auge gefaßt. Denn bei Neuwahlen werden ihnen kaum noch Chancen eingeräumt. Es ist andererseits bezeichnend für die Lage der Opposition, daß in ihren Reihen ein politischer Differenzierungsprozeß zwischen den demokratischen Kräften und den nationalistischen Extremisten eingesetzt hat. Je länger die gesellschaftliche Agonie andauert, desto stärker werden die Extremisten in der Opposition. Die türkischen und mazedonischen Minderheiten müssen mehr denn je fürchten, zum Blitzableiter für die Probleme der bulgarischen Mehrheitsbevölkerung zu werden. Nur schnellstmögliche Neuwahlen bieten daher noch die Chance für eine demokratische Entwicklung. Erich Rathfelder
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