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Archiv-Artikel

Die Moral der Einheit

Zieht zusammen, was zusammengehört? Neue Daten zeigen, dass Deutschland immer noch geteilt ist – jedenfalls, was den Umgang mit der Paarbeziehung und dem Kinderwunsch betrifft

VON COSIMA SCHMITT

Im Osten wohnt die Avantgarde. Die Menschen hier verbandeln sich anders als die Restnation. Sie pflegen neue Paarmodelle, wo die tradierte Ehe versagt. Deutschland ist kein einig Vater- und Mutterland – das ergeben neueste Daten des Statistischen Bundesamtes.

Zwar haben 16 Nachwendejahre den Osten ähnlich kinderentleert wie den Westen der Nation. Die vielen Kitas haben ihn nicht zum Reservoir künftiger Rentenzahler gemacht. Und doch offenbart sich ein Sonderweg Ost – unabhängiger von Ehering und Paarkultur.

Kind und Trauschein – da gibt es nur im Westen einen engen Zusammenhang. Hier wachsen vier von fünf Kindern bei verheirateten Eltern auf. Anders das Ostkind. Kaum mehr als jedes zweite lebt bei standesamtlich verbundenen Erzeugern. Die übrigen wachsen unkonventionell auf: Fast doppelt so oft wie das Westkind leben sie bei Alleinerziehenden; dreimal so häufig bei einem unverheirateten Paar.

Zeigt sich hier ein Sittenverfall Ost? Oder manifestiert sich der Wille, auf jeden Fall ein Kind großzuziehen – auch abseits eines staatlich abgesegneten Paaridylls?

Einige Indizien sprechen für die zweite These. So wenig das DDR-Modell der jungen Eltern und prall gefüllten Kitas überdauert hat – so sehr prägt es noch das Denken.

Denn wenig unterscheidet die West- und Ostfrau 2005 so stark wie ihr Kinderwunsch. Lediglich eine von zwanzig Ostdeutschen möchte gar kein Kind gebären. Im Westen plant dies jede sechste, besagt eine neuere Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung.

Und nur in Gesamtzahlen ähneln sich die Kinderflauten Ost und West. Die Wirklichkeit ist vielschichtiger. Vor allem im Westen grassiert das Entweder-oder-Modell. Immer mehr Männer wünschen sich gar kein Kind – oder wenigstens zwei. Der Ostdeutsche ist flexibler, vertritt aber auch eher ein Ein-Kind-Ideal. Nagt die Angst, eine größere Familie ließe sich im Jobmangelland BRD nicht ernähren? Noch ist dies nicht umfassend untersucht.

In einem immerhin ist der Einfluss Ost unverkennbar: Seine Paarvielfalt strahlt auch auf den Westen ab. Deutlicher noch als in den Lebensformen ist dies in der gewandelten Moral erkennbar. Die Bezeichnung „wilde Ehe“ mutet mittlerweile altväterlich an. Aus der Alltagssprache ist sie fast verschwunden. So richtig wild finden mag niemand mehr das Paardasein ohne Trauschein. Und längst sind es die biederen unter den jungen Paaren, die frühzeitig die WG gegen die Kleinstwohnung mit Freund oder Freundin eintauschen. Standesamt oder nicht – das gilt, so eine aktuelle Allensbach-Studie, kaum einem Deutschen mehr als Frage der Moral.

Doch auch das alte Kindermodell Ost erlebt derzeit eine ungeahnte Wiedergeburt – in den Diskussionen der Demografen. Auf einmal gilt als Ausweg aus Gebärflaute und Vereinbarkeits-Dilemma, was im Osten gang und gäbe war: sich früh zu verbandeln, früh fortzupflanzen und mit Kita-Hilfe die Twen-Jahre zu überstehen. Wer mit zwanzig Mutter wird, kann mit Mitte dreißig in die Chefetagen durchstarten, so die Idee. Einige Zusatz-Kitas, ein paar Wickeltische fürs Studi-Wohnheim – und schon wird Deutschland zum Kind-und-Karriere-Idyll.

Solche Szenarien mögen unrealistisch sein in einer Nation, in der noch Endzwanziger mit „Wir wollen nicht erwachsen werden“-Parolen kokettieren. Zumindest aber zeigen sie: Der Osten ist mehr als nur ein Imitator westlicher Familienbilder. Er ist auch ein Impulsgeber.