„Grey’s Anatomy“ ist inzwischen Trash. Na und?
: Die Milka-Schokolade unter den Serien

Die Couchreporter Heute: Anne Fromm

Es gibt 268 Folgen „Grey’s Anatomy“, zwölf Staffeln, 187 Stunden, 7,8 Tage. Ich habe sie alle gesehen. Viele sogar mehrfach, also komme ich wahrscheinlich eher auf zehn Tage. Zehn Tage meines Lebens habe ich damit verbracht, zuzusehen, wie sich ein Haufen junger, gut aussehender AssistenzärztInnen zu OberärztInnen hocharbeitet, sich in Vorgesetzte und PatientInnen verliebt, sehr viel Tequila trinkt, im Fahrstuhl, Wald, auf der Straße und auf einer Insel operiert. Wie sie Unfälle, einen Amoklauf, einen Flugzeugabsturz, ein Fähr­unglück, eine explodierende Bombe und ein Erdbeben – zum Teil – überleben. Kurz: „Grey’s Anatomy“ ist Trash.

Das war mal anders, weil: sehr witzig, ausgesprochen gute Dia­loge, ein Kleinod für Fans von Indiemusik. Heute ist der Witz dem Drama gewichen, die Dialoge triefen vor Moral und die Musik gähnt vor sich hin. Es gibt so viel besser erzählte Serien („Leftovers“, „House of Cards“), spannendere („Breaking Bad“), witzigere („Flight of the Concords“) und popkulturell wertvollere („Girls“). Und trotzdem gucke ich weiter.

Vor jeder neuen Folge habe ich ein schlechtes Gewissen: Wieso investiere ich so viel Zeit in eine Serie, die mich mit ihrem überzogenen Drama, ihrem Herzschmerz und ihrer Redundanz eigentlich nervt?

Ich habe in meinem Freundeskreis dazu eine Umfrage ­gestartet. Denn ich bin nicht der einzige „Grey’s“-Fan, der hadert. Viele meiner – zugegeben, ­ausschließlich weiblichen – Freundinnen sind es auch. Kluge, anspruchsvolle Frauen. Keine von ihnen fällt sonst auf Kitsch rein – außer auf „Grey’s Anatomy.“

L. sagt, leicht genervt: „Das ist soooo scheiße.“ Aber wenn sie krank oder sonst wie schlecht drauf ist, sagt sie auch: „ ‚Grey’s‘hat mich gerettet“. Genau mein Widerspruch.

I. sagt, eines müsse man „Grey’s“ lassen: Ihre Erfinderin, Shonda Rhimes, macht das richtig gut mit der Diversity, von Anfang an. Das stimmt. Als „Grey’s Anatomy“ 2005 in den USA gestartet ist, war es im Serienbusiness außergewöhnlich, dass so viele Schwarze mitspielen – als Hauptfiguren! Sexismus und Rassismus werden thematisiert, Trans*Menschen haben mitgespielt, Schwule, Lesben, Dicke, Dünne, Alte, Junge. Aber guckt I. die Serie deshalb? Nee, sagt sie. Natürlich nicht. Sondern weil die Charaktere sie schon seit 16 Jahren begleiten. Wie gute Freunde. Klingt traurig, ist aber wahr. Die Freundschaft zu Meredith Grey ist verlässlich. Immerhin sendet sie jeden Donnerstag neuen Stoff.

Klar hätte ich die zehn Tage, die ich mit der Serie verbracht habe, auch mit Wertvollerem verbringen können: Echte Menschen treffen. Ein Buch lesen. In den Urlaub fahren. Sport machen. Aber muss jeder Tag, jede Stunde sinnvoll gefüllt sein?

Wenn Serien das neue Super-Food sind, dann ist „Grey’s Anatomy“ die Milka-Schokolade: nicht hochwertig, dafür überzuckert und fett und gerade deshalb gut. „Grey’s“ steht für sinnloses Faulsein. In gewisser Weise ist „Grey’s“ die Anti­serie zu all den anderen, die zum Bildungskanon hipper Twenty-/Thirty-somethings der urbanen Mittelschicht gehören. Das macht „Grey’s“-GuckerInnen zwar nicht unbedingt zu RebellInnen. Nimmt ihnen und mir aber bei der nächsten Folge vielleicht das schlechte Gewissen.