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Archiv-Artikel

Die Metaphysik der Schönheit

Androgyn, apollinisch, außergewöhnlich – Tilda Swintons Gesicht ist ein Versprechen. Ein Porträt des Underground-Stars

VON EGBERT HÖRMANN

Wer hat Angst vor Tilda Swinton? Ich zum Beispiel. Für mich ist die Schauspielerin zum Baudelaire’schen Spleen geworden. Ich sehe sie überall, insbesondere in etwas außergewöhnlichen Kunstwerken, wie den Statuen der Osterinseln. Swinton bleibt für mich, auch nachdem ich ihr mehrfach persönlich gegenübersaß, eine absolute Besonderheit.

Hier haben wir möglicherweise eines der letzten großen Kinoobjekte, das auf der Leinwand geboren wurde, um in der Dunkelheit des Kinosaals, in dem wir in einer Art Gruppentherapie nach einem Schlüssel für unsere eigene Existenz suchen, angebetet zu werden.

Bei Tilda Swinton gerät auch private Trauerarbeit zur transzendierenden Performance, einer Art Brücke, die in die Unendlichkeit strebt. Nach dem frühen Tod ihres Meisterregisseurs Derek Jarman, mit dem sie acht Jahre Freundschaft und sieben Filme verbinden, sagte sie 1995 der Künstlerin Cornelia Parker für deren Projekt „The Maybe“ zu. Eine Woche lang legte sie sich in der Londoner Serpentine Gallery täglich acht Stunden lang in eine sargähnliche Glasbox und (ent)schlief wie ein Dornröschen (ein kleines Schild informierte: „Matilda Swinton 1960–“), Miltons Aufforderung aus den Versen des „Penseroso“ folgend: „Forget yourself to marble …“ (vergiss dich selbst, zu Marmor werdend). Für Besucher war es ein ganz besonders erhabener Kunstgenuss, die Garbo des Avantgardefilms beim Schlummern betrachten zu dürfen. „Man muss nur ein menschliches Gesicht betrachten“, wie Rodin sagt, „um eine Seele zu dechiffrieren.“

Eine erfolgreiche Filmkarriere beinhaltet die anhaltende Präsentation einer essenziellen, tiefen Qualität in der Persönlichkeit des Schauspielers oder der Schauspielerin, wie sie sich in seiner/ihrer physischen Ausstattung widerspiegelt. Dies ist bei Tilda Swinton der Fall. Dieses Gesicht, das aus der Tiefe der Zeit und der Erinnerung zu uns zu kommen scheint! Es ist die Schönheit einer hochgezüchteten Klasse, eine Gemeinschaftsarbeit der Maler de la Tour, Botticelli, Ingres und Vermeer, im Idealfall fotografiert von Lichtkünstlern wie Josef von Sternberg, Carl Theodor Dreyer und Henri Alekan.

Was die Arie für die Oper, das ist die Großaufnahme für den Film. Die Geschichte des Films als eine Abfolge von Close-ups muss noch geschrieben werden, und Swinton selbst hat ein philosophisches Interesse daran: „Was für Einsichten es vermittelt! Wie viele von uns können je sagen, wir haben die Gedanken in unseren Hinterköpfen gesehen?“

Ihre Performance ist mehr Bestätigung als Erfindung. Wegen der Großaufnahme ist die Intimität, die sich mit dem dargestellten Charakter herstellt, auf eine gespenstische Art lebensecht.

Es ist das Versprechen solcher Intimität, das das Gesicht des Schauspielers oder der Schauspielerin zum mächtigsten Werkzeug des Regisseurs macht. Swintons Gesicht hat eine fast cartoonartige Schlichtheit, die vielen großen Leinwandpersönlichkeiten eigen ist. Da gibt es keine Exzesse, keine Widersprüche, alles befindet sich im Gleichgewicht. Das ästhetische Versprechen, das diesen Zügen eigen ist, wird auf eine geheimnisvolle Weise gehalten und eingelöst. Wie bei allen Filmgesichtern, die im Gedächtnis haften bleiben, findet sich das innere Leben direkt an der Oberfläche und gestattet den Zuschauern eine flüchtige, aber intensive persönliche Beziehung mit etwas, was so gut gemacht ist, dass man weiß: Hier hatte Der Große Designer endlich mal einen guten Tag.

Privat pflegt Swinton einen pragmatisch lässigen Umgang mit ihrem Aussehen, aber selbst banales Tageslicht kann nicht anders, als sich ab und zu in ihrer Gesichtsstruktur fotogen zu verfangen. Ihre Einstellung zu ihrer Schönheit ist typisch unorthodox, fast pervers. Sie kann die Kritiker nicht verstehen, die ihre Isabella in „Edward II“ mit Audrey Hepburn und Grace Kelly verglichen. „Gott steh uns bei, wir beabsichtigten das genaue Gegenteil! Sie ist eine unbelebte, sinistre Maske, nicht schöner als der unappetitliche Kranführer Max, den ich in ‚Man to Man‘ spielte.“

Kaum zu glauben, dass die Einzige und Unvergleichliche, die schöne Monade, die Emanation von Heide, Hochmoor und den nördlichen Nebeln, die Androide eine von uns ist. Aber ja doch, sie ist ein Meter achtzig groß, hat von Natur aus tizianrotes Haar und moosgrüne Augen, ist eine überzeugte Schottin und politisch entschieden links (sie war Mitglied der Kommunistischen Partei, danach ging sie zur Democratic Left). Sie ist eine fesselnde Zwitterbildung des robust Praktischen und des träumerisch Unterirdischen. Sagte sie eben noch etwas so Surreales, das sie wie die Gestalt eines magischen Realisten erscheinen ließ, so verblüfft sie ohne Übergang den Gesprächspartner mit etwas ganz Tiefgründigem oder mit der Frage: „Weshalb lecken Hunde ihre Eier?“

Für eine Frau, die während einer Rekonvaleszenz die Bücher von Mathematikern und ein umfangreiches religiöses Traktat aus dem 15. Jahrhundert las („Es war ein Balsam, meine emotionale Imagination sowohl auf das Unendliche als auch auf das Konkrete anzuwenden“), hat sie ein überraschendes Verhältnis zur Mode. Sie ist die Muse des holländischen Designteams Viktor & Rolf, und sie liebt Martin Margiela und Gaultiers Entwürfe für Hermès. Sie lebt mit dem schottischen Maler und Sozialisten John Byrne und ihren beiden Kindern Honor und Xavier abgeschieden in Schottland auf einer Farm, eine Stunde von Inverness entfernt.

Und da ist, naturally, dieser familiäre Hintergrund. Sie stammt aus einer der ältesten Familien Schottlands. Das heraldische Familienmotto: „J’éspère, je pense“ (Ich hoffe, ich denke). Achselzuckend kommentiert sie zwar, „Alle Familien sind alt“, aber nicht viele Familien sind seit dem 9. Jahrhundert im Besitz eines Schlosses. Nationalautor Sir Walter Scott bemerkte einmal, es sei ihm eine Ehre, „ein kleiner Zweig“ im Familienstammbaum der Swintons zu sein, einer der Vorfahren wurde von Sargent gemalt, und entfernte Verwandte waren die exzentrischen Ästheten Edith und Osbert Sitwell.

Swinton wurde als das dritte von vier Kindern am 5. November 1960 geboren. Die Mutter stammt aus Australien, der hochdekorierte Vater war Generalmajor, ist Officer of the Order of the British Empire und befehligte eine der Garden der Queen. Die erste Erfahrung von Entfremdung erlebte Swinton, als ihre Eltern sie im Alter von zehn Jahren nach England auf die Mädchenschule West Heath verfrachteten, wo ihre Erscheinung und ihr Wesen sie schnell zur Außenseiterin machten (eine Mitschülerin übertrumpfte beim Schulsport „Gut Heiraten“ alle: Diana Spencer traf den Royal Jackpot). Swintons Traum war zu dieser Zeit, Schriftstellerin zu werden, aber dann las sie zu viele Bücher. („ ‚Ich schrieb früher Gedichte …‘ – ist das nicht das Traurigste, was ein Mensch sagen kann?“)

Sie studierte Sozialwissenschaften und englische Literatur, in Cambridge, danach arbeitete sie illegal in einem südafrikanischen Township und in einem ostafrikanischen Dorf, wo sie sich als „Mädchen für alles“ nützlich machte. Zwei Jahre später nach England zurückgekehrt, arbeitete sie an verschiedenen Theatern, auch mit der Royal Shakespeare Company, war dort aber nicht glücklich, da sie ihr zu männerdominiert, zu einschränkend und zu kommerziell war.

Sie fühlte sich gestrandet in Zeit und Raum. Schicksalhaft schlug ihre Stunde, als sie in London 1984 Derek Jarman kennen lernte, der zu ihrem Svengali wurde, das apollinisch Androgyne und Proteische ihrer Erscheinung aufblühen ließ und ihr Gesicht zu einem ganzen Universum subtiler sexueller Zweideutigkeiten und gedämpfter Farbtöne entfaltete. Er bot ihr die weibliche Hauptrolle in „Caravaggio“ an, und sie hatte als eine Art universale, idealisierte Mutter-Vater-Figur im größtenteils schwulen Jarman-Clan ihre Heimat gefunden. Der internationale Durchbruch erfolgte 1992 mit Sally Potters üppig bebildertem Filmessay „Orlando“, nach dem Vita Sackville-West gewidmeten Roman von Virginia Woolf, der als der längste und bezauberndste Liebesbrief der Literatur bezeichnet wurde.

Als als sie 15 war, fühlte sie sich zum ersten Mal von diesem literarischen Werk direkt angesprochen. Das Buch beinhaltet die Themen, die Filme nach Swintons Meinung behandeln sollten: Unsterblichkeit, Androgynität, nationale Identität, Nostalgie, Reproduktion, soziale Klassenverhältnisse, Geld.

Nach Virginia Woolf ist der Geist des Genies androgyn, und Swinton ist fasziniert von Geschlechtsverwandlungen, von sexueller Dualität als Macht- und Spielraum der Fantasie. 1988 mimte sie in dem Einpersonenstück „Man to Man“ eine deutsche Witwe, die sich als ihr toter Mann ausgibt (inklusive ausgedehnten prolligen Benehmens), um das Dritte Reich zu überleben: „Ich dachte, ich würde das nicht schaffen, deshalb habe ich es versucht.“ Danach gab sie einen androgynen Mozart in Puschkins „Mozart und Salieri“.

Androgynität als Konzept und Realität, als Maske, Verkleidung und Metapher hat Swinton schon immer interessiert: „Was könnte weniger beschränkend sein, als beide Geschlechter gleichzeitig zu spielen?“ Nach ihrer eigenen Sexualität befragt, meint sie, dass dies zwar eine legitime Frage sei, aber eben eine, die sie nicht beantworten könne. „Ich habe einen Horror vor expliziten Dingen, weil man dann eine Tür zumacht. Sagen wir so: Ich bin sexuell, ich brauche kein Präfix. ‚Orlando‘ ist für mich zutiefst autobiografisch. Ziehen Sie also Ihre eigenen Schlüsse.“

F. Scott Fitzgerald sagte, der Prüfstein für eine erstrangige Intelligenz sei „die Fähigkeit, zwei entgegengesetzte Ideen gleichzeitig im Kopf zu haben und doch weiter in Funktion zu bleiben“. Die blitzgescheite Swinton schafft das mit einer ganzen Menge Ideen. Sie hat komplexe, kluge, originelle, hypnotisch assoziative, gegensätzliche und analytische Meinungen, so auch zur Schauspielerei. Man vermutet, dass sie wie Brando oder Dietrich die Schauspielerei eigentlich nicht wirklich seriös und etwas trivial findet. „Ich interessiere mich im Grunde nicht für die Schauspielerei, ich bin am Film interessiert. Nun gut, ich trage die Maske. Ich stelle das Image her. Es geht nicht darum, Gefühle zu erklären, sondern darzustellen. Das Verhalten interessiert mich mehr als der Charakter. Aber ich schlüpfe nicht in einen Charakter – das ist alles Geschwätz. Mich interessiert der Beipackzettel eines Films. Wenn ich sage, Spielen ist einfach, dann meine ich es. Wir spielen Metaphern für wirkliche Menschen.“

Swintons tiefes Bedürfnis, zu kommunizieren und Information zu teilen – es sind die Möglichkeitsformen der Existenz, die sie auslotet, Verwandlungen als Forschungsreisen durch verschiedene Identitäten. In Jarmans „Edward II“ ist sie als Königin Isabella ein Molotowcocktail der Verletzlichkeit und der Aggression und wird vom Opfer zur Siegerin; in „Teknolust“ von Lynn Hershmann-Leeson erscheint sie gleich mehrmals, als drei Klones, die Männern ihr Sperma abnehmen müssen, um überleben zu können; in „Vanilla Sky“ agiert sie als orakelhafte Virtual-Reality-Maklerin; eine abartige, idealistische Filmproduzentin stellt sie in „Adaptation“ dar; direkt nach der Geburt ihrer Zwillinge spielte sie, ganz und gar ihr eigener Lucian Freud, 1998 in dem Inzestdrama „The War Zone“ unter der Bedingung, nackt gefilmt zu werden: „Ich wollte diese Frau, die gerade eine Geburt hinter sich hatte, nicht spielen, wenn ich nicht zeigen könnte, wie ein Frauenkörper nach der Geburt tatsächlich aussieht“.

In „The Deep End“ ist sie eine Hausfrau, die ihren schwulen Sohn vor einer Erpressung schützen will, eine Mutter, die in einen Film noir gerät („Mütter finden sich täglich in einem Film noir wieder“). Sie war aber auch als Erzengel zu sehen und als White-Trash-Mieze, demnächst soll sie die Warhol-Heroine Nico verkörpern. Swinton ist jedenfalls der Beweis dafür, dass es für wirklich große Schauspielerinnen immer gute Rollen gibt. Sie ist derzeit der einzige Filmstar, der seine Karriere ausschließlich auf Cineasten und Arthouse-Filmen aufbaute.

Dem Sirenengesang Hollywoods widerstand Tilda Swinton lange Zeit („Ich habe kein Interesse daran, die Kontrolle aus der Hand zu geben“), aber als „Antistar“ fühlt sie sich nicht. „Ich mag lieber ‚Der Underground-Superstar‘ .“

Inzwischen zeigt sie sich sporadisch versöhnlicher. Tilda light gab es in „The Beach“ (da spielte sie die autokratische Anführerin einer Kommune) und in „Die Chroniken von Narnia“. Es ist keine Überraschung, dass sie Robert Bresson, den großen Jansenisten des Kinos, verehrt, der in seinen „Notizen zur Kinematographie“ den Begriff „Schauspieler“ verschmäht und, wie ein Maler, das Wort „Modell“ bevorzugt. In seinem Film „Zum Beispiel Balthasar“ macht er einen Esel zum Helden des menschlichen Dramas um die Mysterien göttlicher Gnade. Für Swinton ist dies die ideale Performance. „Denn dieser Esel will nichts anderes sein als das, was er ist: ein Esel.“

Ihr Vater bezeichnete sie einmal als contrarian, einen Menschen also, der das Gegenteil von dem tut, was üblich ist. Darauf angesprochen, nennt Swinton als die Tugenden ihrer Familie das Unauffälligsein, das Zurückhaltende, das Stoische. Aber: „Als ich einmal eine Retrospektive meiner Filme sah, fiel mir auf, linkisch ausgedrückt, dass ich einen inneren Widerstand dagegen habe, einem von mir erwarteten Rhythmus zu folgen – was manchmal erhellende, manchmal desaströse Ergebnisse hat. Ich kann nicht anders, als den traditionellen Rhythmus zu vereiteln.“

EGBERT HÖRMANN, Jahrgang 1956, ist Filmkritiker und Übersetzer. Er lebt in Berlin und St. Petersburg