Die Megacity Delhi: Zustand des Molochs
Rana Dasgupta ist mit seinem Buch „Delhi – im Rausch des Geldes“ ein anregendes Porträt der indischen 20-Millionen-Stadt gelungen.
Delhi ist „eine Stadt der Ausgrenzung und Isolierung, eine Stadt der Clans und Hierarchien, in der nur wenige Menschen, gleich welcher Gesellschaftsschicht sie angehören, den Gedanken des Abbaus gesellschaftlicher Unterschiede ansprechend finden“, formuliert Rana Dasgupta in dem Buch, das er über seine Wahlheimatstadt geschrieben hat.
Dieser Satz ließe sich seinem Buch als Motto voranstellen, und dieser Eindruck ist es auch, den man daraus mitnimmt: Man liest es angeregt und erfährt viel, denn Dasgupta hat aufwändige Recherchen betrieben und kann sein Wissen gut darstellen.
Aber während jener Wälzer, welcher für sein Delhi-Porträt vermutlich Pate gestanden hat, nämlich Suketu Mehtas „Bombay – Maximum City“, vor allem unglaublich neugierig auf seinen Gegenstand machte, stellt sich nach der „Delhi“-Lektüre fast ein gegenteiliger Effekt ein: eine heimliche Freude darüber, jetzt schon so viel über diese Stadt zu wissen, dass man sich für den Fall, dass es einen demnächst dorthin verschlagen würde, dort gar nicht unbedingt länger aufhalten müsste.
Der Autor Rana Dasgupta selbst, Sohn einer Engländerin und eines Inders und in Großbritannien aufgewachsen, ist der Liebe wegen im Jahr 2000 nach Delhi gezogen. Er porträtiert die Megacity mit ihren 20 Millionen Einwohnern als Moloch, der in seiner aktuellen Gestalt mehr als durch alles andere durch die Kräfte eines entfesselten Kapitalismus geprägt wurde.
Rana Dasgupta: „Delhi. Im Rausch des Geldes“. Aus dem Englischen von Barbara Heller und Rudolf Hermstein. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 462 S., 24,95 Euro
Oder vielmehr: einer Spielart des Kapitalismus, dem wenig gesetzliche Schranken auferlegt werden und der weniger den Regeln eines freien Marktes gehorcht als jenen einer tradierten Vetternwirtschaft und eines fest etablierten Systems der Korruption.
Dasgupta hat für sein Buch mit zahlreichen Vertretern und Vertreterinnen des neuen und des alten Geldadels gesprochen, mit Wirtschaftsbossen und Bürokratinnen, mit Frauen, die zwischen ihrem Wunsch nach einer beruflichen Karriere und ihrem Anspruch, dem althergebrachten Ideal der sich aufopfernden Ehefrau treu zu bleiben, zerrieben werden, und mit Männern, deren viriles Selbstbewusstsein sich zu einem beträchtlichen Teil daraus speist, ein richtig dickes Auto zu fahren.
Er trifft arme Menschen, die immer wieder vergeblich versuchen, ihren Slum wohnlich zu machen, und vom Staat mehr behindert als gefördert werden, und ehemals wohlhabende Menschen, die von der Teilkommerzialisierung des ehemals staatlichen Gesundheitswesens in den Ruin getrieben wurden.
Das entstehende Gesamtbild ist gleichermaßen faszinierend wie abstoßend. Abstoßend, weil derart extreme gesellschaftliche Gegensätze für das europäische Empfinden nur noch schwer vorstellbar sind. Und faszinierend, weil Dasgupta überhaupt mit all diesen unterschiedlichen Menschen spricht – Menschen, mit denen man auch auf ausgedehnten Reisen nie zusammentreffen würde oder sich nicht unterhalten könnte. Man erhielte keine Audienz bei den Superreichen, und auf die Idee, einen direkt neben einer großen Müllhalde gelegenen Slum zu besuchen, käme man auch nicht einfach so.
Deutschland den Wölfen? Warum Waschbären sterben müssen und Menschen graue Eichhörnchen fürchten, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 7./8. Februar 2015. Außerdem: Ulrich Seidl hat Österreichern in die Keller geschaut. Ein Gespräch über Abgründe. Und: Wer „Promotion“ englisch ausspricht, macht aus dem Doktortitel eine Verkaufsaktion. Aus dem Leben einer arbeitslosen Akademikerin. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Falsche Versprechungen
Das Gespräch, das Dasgupta hier am Rande Delhis mit zwei Frauen führt, ist eines der wenigen im Buch, worin seine Sympathien offen durchscheinen. Die Tatkraft und der Widerstandsgeist der Slumbewohnerinnen, die schon einmal mit falschen Versprechungen von dem Land vertrieben wurden, das sie bewohnbar gemacht hatten, und die nun wieder umziehen sollen, stehen in scharfem Kontrast etwa zur sinnfrei scheinenden Geschäftemacherei des schwerreichen jungen Unternehmenserben, der den Autor in einem der vielen Häuser der Familie zum Interview empfängt.
Zwischen all diesen Gesprächen, die in ihrer Gesamtheit den mentalen Jetzt-Zustand der Stadt widerspiegeln sollen, hat der Autor Abschnitte gesetzt, in denen er die historische Hypothek der Stadt erläutert. Einst Sitz der Moghul-Herrscher, war Delhi später das Verwaltungszentrum der Briten. In beiden Funktionen sei es ein Ort gewesen, an dem verschiedene Kulturen und Religionen in friedlicher Koexistenz nebeneinander lebten.
Das änderte sich nach 1947. „Das moderne Delhi entstand aus der Katastrophe der Teilung Indiens“, schreibt Dasgupta. Zahllose Flüchtlinge aus dem heutigen Pakistan, darunter auch viele Sikh-Geschäftsleute aus dem Punjab, ließen sich in Delhi nieder und etablierten die dominierende kaufmännische Kultur.
Immobilien unter den Nagel gerissen
Während es Flüchtlingen nach der Teilung erleichtert wurde, Grundbesitz zu erwerben, verloren die gewaltsam vertriebenen Muslime ihre Häuser und Grundstücke – nicht selten an ehemalige Hindu-Nachbarn, die sich die Immobilien unter Ausnutzung informeller Behördenkontakte unter den Nagel rissen.
Während des Immobilienbooms der letzten Jahrzehnte, nach der Öffnung Indiens für ausländisches Kapital, wuchs der Wert der damals leicht erworbenen Häuser ins Unermessliche und legte den Grundstein für so manches heutige Familienvermögen. Es ist hochinteressant, die Eindrücke aus dem modernen Moloch, in dem der Autor lebt, vor der Folie des historischen Abrisses zu lesen. Ein gewisser Hang zur Nostalgie scheint dabei allerdings durch. Im alten Delhi, so lässt sich zwischen den Zeilen lesen, hätte Dasgupta vermutlich gern gewohnt, und sei es nur, um den Unterschied festzustellen.
Nur in seinen persönlichen Zwischenbemerkungen blitzt kurz ein „anderes“ Delhi auf, eines, in dem Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle wohnen und das vermutlich den Lebenskosmos des Autors darstellt. Wenn man es nicht selbst schafft, diesen Teil der Stadt dazuzudenken, fehlt schlicht das Positive – oder auch nur das Normale. So gerät die Darstellung insgesamt wahrscheinlich stärker zugespitzt, als es der Lebenswirklichkeit in der realen Stadt entsprechen mag. Um das etwas schade zu finden, muss man Delhi weder kennen noch mögen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!